Der Alltag auf Jamaika ist von Musik geprägt. Bild: Jamaica Tourist Board
Jamaikas tiefenentspanntes Strandleben ist legendär. Doch wer den wahren Puls der Insel fühlen will, durchstreift auch das üppig grüne Hinterland und entdeckt eine überraschend vielfältige Natur und eine reiche Kultur.
Rot-grauer Schnabel, grüne Flügel, rote Kehle – «das ist er», ruft Wolde Kristos freudig aus. Ein winziger Vogel flattert am Naturführer vorbei. Das Tier ist kaum grösser als ein Zaunkönig, mit seinem tomatenrot-smaragdgrün-elfenbeinfarbenen Gefieder jedoch ein echter Hingucker. Der Jamaika-Todi sieht wie eine Kreuzung aus Kolibri und Eisvogel aus und kommt einzig auf der Karibikinsel vor. «Für mich ist er einfach einer der Schönsten», sagt Kristos. Der Jamaikaner führt Gäste, die auf seiner Heimatinsel mehr erleben wollen als Sonnenbaden und Pool-Partys, durch das üppig grüne Hinterland. Vogelliebhaber freuen sich auf 29 Arten, die nirgendwo sonst auf der Welt vorkommen. Doch selbst weniger eingefleischte Naturfreunde kann der Hobbyornithologe mit seiner Begeisterung anstecken. Wenn sie mit ihm auf einer Wanderung schillernde Kolibris, seltene Papageien und farbenprächtige Spechte erspähen, fühlen sich Kristos Gäste ein bisschen so, wie sich wohl auch die ersten europäischen Entdecker fühlten im Bergwald der Insel.
Wer sich nach der Vogelbeobachtung noch nicht an exotischen Farben satt gesehen hat, fährt am besten mit dem Guide hinaus zu den Korallenriffen von Bluefields, wo das Meer vor bunten Fischschwärmen leuchtet. Anders als an den bekannten Riffen vor der Nord- und Westküste, haben Taucher die schillernde Unterwasserwelt hier meist für sich allein. Sie können sich kaum sattsehen an der Farbenpracht von Kugel-, Schmetterlings- und Papageienfischen. «Der Mensch hat seine politischen Farben und Lager», sagt Kristos, «darüber kann sich die Natur in ihrer Vielfalt ja einfach nur lustig machen.» Im Süden Jamaikas gibt es noch immer auch einsame Strände zu entdecken, wo man sich den Blick auf das azurfarbene karibische Meer allein mit den Seevögeln teilt. Meeresschildkröten kehren immer wieder an die Strände zurück, um ihre Eier abzulegen.
Auf dem Black River im Inselinneren
Besucher, die Neugier für die karibische Lebensart und die Besonderheiten der Insel mitbringen, lernen auf Jamaika überall Einheimische kennen, die ihnen gerne ein einzigartiges Stück ihrer Heimat und der aussergewöhnlichen Natur zeigen.
Wer Jamaikas wahren Charakter zu ergründen sucht, streift durch die Urwälder, badet in den Bergbächen und schlendert durch die verlockenden Gärten. Für eine schnelllebige Strandromanze ist die Insel viel zu aufregend. Anders als einige ihrer karibischen Schwestern, die allein mit Sand und Sonne locken, liegen Jamaikas Reize ebenso in seinem unwegsamen Inneren. Eine Bootsfahrt auf dem wilden Black River, einem von Jamaikas längsten Flüssen, ist ein entspannter Einstieg für eine Erkundungstour ins Herz Jamaikas. Bei einem Ausflug auf seinem schwarzen Wasser, in die umliegenden Mangrovenwälder und Sümpfe kann man nicht nur zahlreiche Reiher, Fischadler und Blatthühnchen beobachten. Hier leben auch die seltenen Spitzkrokodile. Etwa 300 der urigen Reptilien soll es geben. Laut den Einheimischen sind sie für Menschen ungefährlich.
Besuch bei den Rastafari
Vor allem abseits der Hotelstrände von Montego Bay, Ocho Rios und Negril stossen Jamaika-Besucher auch auf die ganz inseleigene Rastafari-Kultur, die Jamaika in der Welt berühmt gemacht hat. «Unsere wahren Farben sind Rot, Gelb und Grün», sagt der junge Mann mit den Dreadlocks gleich zur Begrüssung im Rastafari Indigenous Village, «wir sind keine Jamaikaner. Wir sind Afrikaner.» Über der Kommune flattert nicht die Flagge der Karibikinsel im lauen Tropenwind, sondern eine Fahne in Rot-Gelb-Grün – die Nationalfarben Äthiopiens – mit einem Löwen in der Mitte.
Das Rastafari Indigenous Village könnte dem Klischee vom tiefenentspannten Jamaika kaum näher kommen. Durch Kokospalmwedel, Bananenstauden und Zuckerrohr klingen von irgendwoher Reggae-Rhythmen – ohne Zweifel liegt eine Marihuana-Fahne in der Luft und die Rastafari lächeln selig. Genau so hatte man sich Bob Marleys Inselparadies immer vorgestellt. «Die Farben Äthiopiens stehen für unsere Verbindung zu Afrika», klärt First Man – so der Name des Rastaman – Besucher seines Dorfs auf. «Rot steht für das Blut aller Lebewesen, Gelb für die Sonne und Grün für das Leben insgesamt.» Seinen bürgerlichen Namen hat First Man längst abgelegt. Für den Rastafari spielt er keine Rolle mehr. «Mein neuer Name erinnert mich daran, dass ich jeden Tag neu wie der erste Mensch überhaupt lebe.»
Erinnerungen an Ghana und Nigeria
Noch eindrücklicher erlebt man Jamaikas ureigene Seele ganz im Inselinneren. Von Montego Bay führt eine schmale Strasse durch Zuckerrohrfelder, Kaffeeplantagen und dichten Dschungel hinauf in die Berge. Cockpit Country ist seit fast drei Jahrhunderten das weitgehend unabhängige Territorium der Maroons. Einst gründeten entlaufene Sklaven hier ihren eigenen Staat im Staate und erhielten 1739 nach jahrelangen Kämpfen gegen die Engländer weitgehende Unabhängigkeitsrechte von der Britischen Krone.
In Accompong führen Einheimische interessierte Gäste gerne zu der Höhle, in welcher der Friedensvertrag mit den Briten einst unterzeichnet wurde, und zu dem alten Kindah-Baum, unter dem sich die verschiedenen Sklavenstämme unterschiedlicher westafrikanischer Herkunft einst zum Kampf gegen die Kolonisatoren vereinigten. In den zahlreichen Wandgemälden des Dorfes dominieren Rot, Gelb, Grün und Schwarz – neben den Nationalfarben Ghanas auch diejenigen der panafrikanischen Bewegung. Ausserdem haben die Maroons ihre eigene Flagge mit einem Kuhhorn auf rotem Grund. Wenn nach Sonnenuntergang eine Gruppe von Trommlern den wilden Herzschlag Accompongs vorgibt und Frauen in bunten Tüchern ausgelassen dazu tanzen, glaubt man sich augenblicklich nach Ghana oder Nigeria versetzt. Wie kaum irgendwo sonst, lebt bei den Maroons von Accompong Jamaikas afrikanisches Erbe weiter.
Wandern im Unesco-Weltnaturerbe
Neben Cockpit Country sind vor allem die Blue und John Crow Mountains im Osten des Landes ein Paradies für Wanderer und Outdoor-Fans. Mit 2256 Metern liegt hier der höchste Gipfel der Insel – umgeben von wilden Bergwäldern. Der Nationalpark ist aufgrund seiner einzigartigen Artenvielfalt seit 2015 Unesco-Weltnaturerbe. Einen Grossteil der hier heimischen Blütenpflanzen findet man nirgendwo anders auf der Welt. Auch einige äusserst seltene Vogelarten wie der Bromelienstärling, die Rotspiegel- und Jamaika-Amazone kommen fast nur noch hier vor. Wer auf den zahlreichen Wanderwegen unterwegs ist, kann in kristallklaren Gebirgsbächen die verschwitzten Füsse erfrischen und unter rauschenden Wasserfällen baden.
Mit etwas Glück entdeckt man sogar einen Jamaika-Riesenschwalbenschwanz, den grössten Schmetterling der westlichen Hemisphäre. Wer nach der Bergwanderung den Tag nicht bei einem quietschbunten Cocktail an der Hotelbar ausklingen lassen mag, sondern stilecht mit einem Glas Rum, macht sich am besten auf zum ältesten und bekanntesten Produzenten der Insel. Im saftig grünen Nassau-Tal liegt das traditionsreiche Appleton Estate, wo Besucher alles über die Herstellung des edlen karibischen Tropfens erfahren. Seit mehr als 250 Jahren wird hier aus Zuckerrohr Rum destilliert – manche sagen, der beste der Welt. Die Jamaikaner werden einem gerne bei einem Sundowner ihre Lieblingspunschrezepte verraten, also, wie sie ihrem Rum mit Kokosmilch, Mango-, Ananas- und Guavensaft Farbe und Geschmack einflössen. Fest steht: Die üppige Farbenpracht, mit der ihre Insel gesegnet ist, bietet ihnen jederzeit reichlich Inspiration dazu.
Text: Winfried Schumacher
Gut zu wissen
Anreise: Edelweiss fliegt einmal wöchentlich nonstop von Zürich nach Montego Bay auf Jamaika. flyedelweiss.com
Auf der Insel selbst ist man am besten mit ortskundigen Guides unterwegs.
Hotels: Das Sandals South Coast liegt an der ursprünglichen Südküste und bietet seinen Gästen unter anderem auch kostenlose Tauchausflüge an. sandals.de
Das Luna Sea Inn in Bluefields ist vom Türkisblau des karibischen Meeres umgeben und liegt ideal für Ausflüge in den Bergwald und zum Black River. lunaseainn.com
Allgemeine Informationen: visitjamaica.com, Facebook: @VisitJamaicaD