In Jerusalem konkurrieren sich die besten Hotels Israels, Synagogen, Moscheen und Kirchen. Manche werden in der heiligen Stadt von ihren Gefühlen überwältigt und verlieren den Verstand.
Wer von der Partymetropole Tel Aviv am Mittelmeer die Autobahn nach Jerusalem hochfährt, taucht nach weniger als einer Stunde Fahrzeit und einer Höhendifferenz von 800 Metern in eine komplett andere Welt ein mit mehr als 1000 Synagogen, 158 Kirchen und 73 Moscheen. Sofort fallen die vielen orthodoxen Juden mit ihren schwarzen Kleidern auf. Soldaten der israelischen Armee mit kugelsicheren Westen erinnern daran, dass sich die israelische Hauptstadt mit ihren gegen 800 000 Einwohnern mitten in einem Konfliktgebiet befindet. Am Sabbat, der vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Eintritt der Dunkelheit am folgenden Samstagabend dauert, wirkt die sonst so belebte Jaffa-Strasse im Westen wie ausgestorben. Die zahlreichen Boutiquen, Souvenirläden und Bars sind geschlossen. Es fahren weder Busse noch das neue Hightech-Tram, das für eine Strecke von 14 Kilometern fast eine Milliarde Franken verschlang. In der «Stadt des Friedens», was Jerusalem auf Deutsch heisst, respektiert die Mehrheit der jüdischen Einwohner den Sabbat, so, wie es in der Bibel steht.
Jerusalem soll internationales Tourismusziel werden
Auch Gabriel Strenger (46) hält sich an den jüdischen Ruhetag. Der Basler, der vor gut 20 Jahren nach Jerusalem ausgewandert ist, wohnt heute in Ost-Talpiot, rund 15 Fahrminuten von der Altstadt mit der bekannten Klagemauer und der goldenen Kuppel des Felsendoms entfernt. Der Vater zweier Söhne und zweier Töchter ist ein weltlicher, religiöser Schweizer Jude. Trotz seiner Liebe zur Schweiz bezeichnet der Dozent der Hebrew University Jerusalem als seine Heimat. An ihr schätzt er, die «fantastischen Winter mit viel Sonnenschein, das grosse Angebot an koscheren Restaurants sowie die Nähe zum Toten Meer». Den abflusslosen See, 420 Meter unter dem Meeresspiegel gelegen, erreicht man tatsächlich in 40 Fahrminuten. Über all dem steht für Strenger jedoch die kulturelle Atmosphäre Jerusalems. Bürgermeister Nir Barkat erklärte, er wolle Jerusalem, das kulturelle Zentrum und der Sitz der israelischen Regierung, als internationales Tourismusziel aufbauen. «Hier findet fast jeden Abend ein Vortrag über Judentum, Geschichte, Kunst, Philosophie oder Film statt», sagt Strenger.
Tipp für Fotografen: Auf zum Ölberg am Morgen
Und am 16. März ist erst zum zweiten Mal der Startschuss zum internationalen Marathon und Halbmarathon gefallen, was Hobbyläufer Barkat besonders gefreut hat. Die Sportler sind durch die verschiedenen Stadtteile Jerusalems gerannt, was das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Hauptstadt fördern sollte. Dies ist auch bitter nötig, denn die jüdische Mehrheit und die arabische Minderheit leben nicht miteinander, sondern nebeneinander. Schulsysteme und kommunale Dienstleistungen laufen weitgehend separat. Mit ruhiger Stimme führt Strenger seine Erläuterungen fort: «Den Ölberg und seine arabische Nachbarschaft, wo meine Grosseltern begraben sind, kann ich als religiöser Jude nur in Begleitung bewaffneter Sicherheitsbeamter besuchen. Ich wünsche uns verbesserte Beziehungen zu unseren arabischen Mitbewohnern.» Die Verarbeitung von Terroranschlägen gehört für ihn zum Alltag, betreut er doch als Psychologe Angehörige von Opfern. Just der für christliche Pilger wichtige Ölberg bietet einen fantastischen Blick auf die Altstadt Jerusalems – und am Morgen bestes Licht für Fotografen.
Obwohl Jerusalem ausser am Sabbat ein permanenter Verkehrsinfarkt droht, bietet die grösste israelische Stadt viel Lebensqualität. Dazu beigetragen hat die verkehrsfreie Mamilla Shopping Mall. Sie befindet sich in der Nähe des Jaffa-Tors der Altstadt und wurde vor drei Jahren unter anderem mit Läden von Rolex, H. Stern, Nike, Ahava (Kosmetikprodukte wie Handcremes vom Toten Meer) oder der israelischen Modelinie Castro eröffnet. Die Mauern der Gebäude strahlen im sandfarbenen Jerusalemstein. So schreibt es das Gesetz vor. «Mamilla war einst ein Armutsviertel. Auf dem Weg zur Altstadt trinke ich dort gerne einen Kaffee», sagt Strenger. In Jerusalem wird notabene wie in ganz Israel die alte Kaffeehauskultur Europas gepflegt. Das mag ein Grund sein, weshalb Starbucks 2003 sämtliche sechs Filialen mangels Erfolg aufgab.
Vier Luxushotels innerhalb von wenigen Metern
Die Umgebung von Mamilla ist gleichzeitig das Epizentrum der schicksten Hotels des Landes. Die Bar des luxuriösen Lifestyle-Hotels Mamilla gehört zu den angesagtesten Treffpunkten. Mit dem David Citadel, dem altehrwürdigen King David Hotel sowie dem Waldorf Astoria, das erst in diesen Wochen eröffnen wird, buhlen gleich vier Luxushotels innerhalb von wenigen 100 Quadratmetern um Gäste mit einer grossen Brieftasche.
Von diesen Hotels aus erreicht man in nur zehn Fussminuten via die Jaffa-Strasse gleich eine weitere Fussgängerzone: In Nahalat Shiva befinden sich Dutzende von kleinen Galerien und Läden, die Kunstschmuck verkaufen, sowie Restaurants und Cafés. Das Quartier hat Geschichte geschrieben, weil hier sieben Juden 1867 die ersten Häuser ausserhalb der Altstadt bauten. Im oberen Teil der Jaffa-Strasse befindet sich der Machane-Yehuda-Markt, wo Gabriel Strenger Früchte, Gemüse, Kräuter oder Oliven einkauft. Zum Essen mag er auch die Restaurants in der Emek-Refaim-Strasse, wo im Südwesten der Stadt am Freitag ein Flohmarkt stattfindet. Am selben Tag zieht es Strenger manchmal zum Geburtsort Johannes des Täufers, ins dörfliche Ein Karem, und danach in den Jerusalemer Wald auf einen Spaziergang. Dort sucht der Heimwehschweizer nach dem, was er von seiner alten Heimat am meisten vermisst: Ruhe und Sicherheit.
Vorsicht vor dem mysteriösen Jerusalem-Syndrom
Dafür liegt in Jerusalem etwas Spezielles in der Luft. Die Stadt ist gesättigt von Heiligkeit. Überall gibt es Zeichen der Gegenwart Gottes. Nicht alle Besucher können damit umgehen und verlieren den Verstand – zumindest zeitweise. Strenger kennt diesen Zustand als «Jerusalem-Syndrom». Dabei handelt es sich um eine psychische Störung, die mit Wahnvorstellungen oder Erlösungsfantasien einhergehen. Normale Touristen halten sich plötzlich für biblische Figuren, kleiden sich seltsam und beginnen, die Ankunft Gottes zu verkünden. Ungefähr 20 Menschen erkranken jährlich an diesem (heilbaren) Syndrom. Das sollte aber niemanden von einer Reise in die heilige Stadt abhalten, schwärmt doch Strenger: «Es gibt so viele schöne Dinge in Jerusalem zu sehen. Und die meisten kommen und gehen als ganz normale Touristen.»
Von Reto E. Wild