Das Kleinwalsertal liegt in Vorarlberg, ist aber nicht über Österreich zu erreichen. Hohe Berge kesseln die Bewohner ein. Doch die lieben ihre Natur – und mit ihnen viele Gäste.
Die Kleinwalsertaler hätten die Voraussetzungen, um ganz schön eigenbrötlerisch zu sein. Ihre Vorfahren waren Walliser, die ihrer Heimat im 13. Jahrhundert den Rücken kehrten und aufbrachen, um neue Siedlungen zu gründen. Meist in unwirtlichem, abgelegenem, alpinem Gelände. Bis heute ist dieses Erbe bei den 5000 Einwohnern in den drei Ortschaften Riezlern, Hirschegg und Mittelberg zu hören. Ihr Dialekt unterscheidet sich immer noch deutlich von dem der Nachbarsgemeinden.
Vor allem aber ist es die geografische Lage, welche die Kleinwalsertaler isoliert. Ihr Vorarlberger Hochgebirgstal auf 1100 bis 1200 Metern über Meer ist fast vollständig von hohen Gipfeln der Allgäuer Alpen umgeben. Abgeschottet vom Rest der Welt, völlig abgeschnitten vom übrigen Österreich. Die einzige Verkehrsverbindung führt nach Oberstdorf – in Bayern.
«Wir gehören nicht so richtig zu Österreich und sind auch nicht deutsch», beschreibt es Andreas Haller, der im Kleinwalsertal aufgewachsen ist. Eigen brötlerisch findet er seine Heimat trotzdem nicht. «Und wenn, dann nur im positiven Sinne», lacht er.
Die Statistik gibt ihm recht: Gemessen an den Besucherzahlen ist das Kleinwalsertal das viertgrösste Touristenziel Österreichs. Das sind zu viele Gäste, um sich gegen die Aussenwelt zu verschliessen. Und sie sind nicht nur willkommen, sondern inzwischen Haupteinnahmequelle im Tal. Die Nachfahren der Walser, einst geschickte Bauern, haben die Sensen längst in die Scheunen gestellt und setzen erfolgreich auf den Tourismus, sommers wie winters. Und doch ist bei vielen ein enger Bezug zur Natur erhalten geblieben. Das spüren die Besucher. «Es ist vor allem die Natürlichkeit der Region, die Gäste anzieht», ist Haller überzeugt. Er ist ein Bergmensch, durch und durch. Im Winter hat er jeweils im Skigebiet mit 128 km Piste Snowparks gebaut, mehrere Sommer verbrachte er auf Schweizer Alpen, «weil die im Gegensatz zu den österreichischen keine Gaststätten führen». Heute ist er milder und empfängt selber Gäste. Sie wollen sein neustes Projekt sehen: Einen rund 3000 Quadratmeter grossen Permakulturgarten. Vereinfacht gesagt geht es dabei um bio-dynamische Landwirtschaft, die durch Gartengestaltung und Mischkulturen Mikroklimata schafft, in denen Pflanzen optimal gedeihen – ohne künstliche Dünger oder nicht-nachhaltige Eingriffe. Haller, schon immer an alternativen Lebensweisen interessiert und als junger Mensch hin und wieder an Demonstrationen anzutreffen, war tief erschüttert von der Nuklearkatastrophe in Fukushima und entschied, etwas zu ändern. «Ich hatte genug von diesem System, wollte Alternativen finden, aussteigen und unabhängig werden», erklärt er. Die Mission: Selbstversorger. Das Mittel: die ehemalige Kuhwiese der Oma. Der Plan: Eine Alternative zur modernen Landwirtschaft zu schaffen und selbstbestimmter zu leben. Ist er damit ein typischer Walser? «Mein Antrieb, das beste aus dem kargen Boden und dem rauen Klima zu holen, gleicht demjenigen der Gründungsväter unserer Walser Siedlung. Diesbezüglich fühle ich mich ihnen verbunden», sagt Haller. Doch sein Projekt wurde von seinen Zeitgenossen belächelt. Selbst die Oma betrachtete die Ideen ihres Enkels kritisch, liess ihn aber gewähren. Und schon mit der ersten Ernte konnte er Zweifler überzeugen: «Der Mais gedieh prächtig, obwohl der hier oben sonst nicht wächst, und auch die Zucchetti, der Mangold und die Pastinaken kamen perfekt.» Seither baut Haller den Garten jedes Jahr aus, macht Führungen, pflanzt mit Schulkindern Beerensträucher und gibt sein Wissen an interessierte Einheimische weiter. Für Haller ist klar: Es braucht ein Umdenken. Er sprudelt vor Ideen, wie das Kleinwalsertal als Pionier vorausgehen könnte. «Ich träume von einer Art Garten Eden mit alternativen Energien, gemeinschaftlichem Wirtschaften und einem zeitgemässen Kollektivbewusstsein.» Er lacht, weil er weiss, wie verrückt das klingt. Aber: «Die Gäste kommen zu uns, weil es wunderschön ist. Die Stimmung ist familiär und man gibt acht auf die Natur.» Darin sieht er eine Chance. «Regionen, die heute noch nur auf den Skizirkus setzen, sind verloren.»
Der Geschmack der Region
Da denkt Herbert Edlinger ähnlich. Sein Ding sind sowieso viel eher Wanderungen, und dafür sei das Kleinwalsertal «ein Paradies». Edlinger kam vor 37 Jahren ins Kleinwalsertal, ursprünglich nur für eine Saison als Koch, aber er blieb. «Obwohl die Region stark touristisch geprägt ist, ist es eine ruhige, heimelige Ecke. Man kann sich hier wirklich wohlfühlen.» In der Küche steht der Österreicher inzwischen nicht mehr als Koch, sondern als Produzent für Sirupe, Liköre, Pestos, Senf, Essig und Öle sowie vieles mehr, das er unter seiner Marke «Einfach gut» verkauft. In die Flaschen und Töpfchen kommen nur Naturprodukte aus der Region, die Edlinger oft von Hand auf Wildwiesen pflückt. «Pestizide kommen bei uns im Tal schon lange nicht mehr zum Einsatz.» Wann immer er kann, bricht er mit seiner Hündin für eine Tour in die Berge auf und kommt selten mit leeren Händen zurück. Edlinger weiss, wo auf 1800 Metern Bärlauch wächst und wie er seinen Rucksack am schnellsten voll Dost, eine Oregano-Art, hat. Besonders angetan ist er aber von vermeintlich simplen Pflanzen wie Löwenzahnwurzel und Brennnessel. «Ihr Vitamin- und Mineralstoffgehalt ist unvergleichlich, und richtig zubereitet, schmecken sie toll.»
Das Kleinwalsertal gilt als Genussegion, und Edlinger war einer der ersten, der Wildpflanzen in die Haubeküche brachte. Er tüftelte schon mit einheimischem «Unkraut» als es noch en vogue war, möglichst exotische Früchte und Gemüse aufzutischen. «Ich galt wohl als ausländischer Spinner», amüsiert er sich. Inzwischen liegt das Kochen mit einheimischen Pflanzen im Trend, nicht nur im Kleinwalsertal, und viele renommierte Köche holen sich Tipps bei Edlinger. Zudem führt er Kräuter-Wanderungen mit Touristen durch. «Die Küche der Region hat sich gewandelt. In den vergangenen 15 bis 20 Jahren war sie sehr deutschlastig, jetzt bekennt sie sich klar zu Österreich», erzählt Edlinger. Ein neues Selbstvertrauen, das sich in Käse-spätzle oder Krautkrapfen ausdrückt. Letztere füllt Edlinger übrigens mit Brennnessel und Käsewürfeln.
Ein alpiner Kräutergarten
Auch Christine Keck ist fasziniert von der Natur und der Pflanzenvielfalt im Kleinwalsertal. «In der Höhe wachsen zahlreiche Heilpflanzen», erzählt sie. Keck hat sich intensiv mit ihnen auseinandergesetzt. Das hat sich herumgesprochen, und immer mehr Interessierte kamen auf sie zu, um eine Pflanze von ihr deuten zu lassen und Fragen zu stellen. «Es ist erstaunlich, wie viele Einheimische hier mit Pflanzen arbeiten.» Keck kommt ursprünglich aus der Steiermark, ist aber seit 1982 im Kleinwalsertal. «Die Menschen hier sind offener als in anderen Bergregionen.».
Das Interesse an den Wildkräutern hat sie auf die Idee eines Schaugartens gebracht. Vor dem Gasthaus Hörnlepass der Familie gedeihen nun Wildkräuter jeder Art, sorgfältig beschriftet. Jeden Mittwoch macht Christine Keck zudem Führungen. «Im Grunde geht es um altes Pflanzenwissen unserer Vorfahren, das wir verloren haben.» Keck arbeitet mindestens zwei Stunden am Tag im Garten. Und auch nach all den Jahren kann sie sich immer noch nicht sattsehen an der schönen Umgebung. «Direkt hinter unserem Garten beginnt ein Hochmoor. Wir sehen von zu Hause aus, wenn der weisse Fieberklee da ist. Der leuchtet richtig. Und abends kommen manchmal die Rehe zum Trinken. Dann ist die Idylle perfekt.» Wer weiss, vielleicht waren es solche Bilder, die damals schon die Walser zum Bleiben verlockten.
Von Stefanie Schnelli