Wer Kuba ohne Starbucks und McDonald’s erleben möchte, sollte die Karibikinsel jetzt besuchen. Nach Jahren des Stillstands stehen Veränderungen an.
Noch bevor wir die Vorspeise bestellen, unterbricht uns der Kellner: «Die Suppe, das Huhn und den Pudding gibt es heute nicht.» Der Angestellte des 5-Sterne-Hotels zupft an seiner Weste, fixiert die Wand und schweigt. Keine Erklärung, keine Entschuldigung. Alltag in Kuba, der sozialistischen Enklave zwischen den Bahamas, Jamaika und Haiti.
Die Regimekritikerin und Bloggerin Yoani Sànchez, die vom «Time Magazine» zu den «100 einflussreichsten Personen des Planeten» gewählt wurde, beschreibt ihre Heimat Kuba als eine «Insel hinter dem Mond». Abgeschnitten vom Rest der Welt, nicht nur in ideeller, sondern auch in finanzieller Hinsicht. Mehr als fünfzig Jahre Kommunismus und amerikanisches Embargo haben ihre Spuren hinterlassen. Die einstigen Prachtbauten fallen zusammen wie Kartenhäuser, in den Regalen der Supermärkte finden sich ein paar wenige Büchsen und dicke Staubschichten, die Wirtschaft liegt ebenso brach wie die Zuckerrohrfelder.
Das soll sich ändern. Ab sofort dürfen Kubaner auf eigene Rechnung arbeiten. Im Rahmen der Wirtschaftsreform, die Raul Castro eingeleitet hat, wurden 250 000 Lizenzen für private Kleinunternehmen vergeben. Dafür werden rund eine Million Arbeitnehmer vom Lohnzettel des Staates gestrichen. Die Kassen sind leer und die Produktivität soll angekurbelt werden. Parallel dazu hat US-Präsident Obama die Sanktionen gelockert: Künftig dürfen von allen grösseren amerikanischen Flughäfen Charterflüge nach Havanna starten. Wer Kuba ohne Leuchtreklamen und Shoppingmalls erleben möchte, sollte sich jetzt auf den Weg machen.
Die Plaza des Armas ist einer der fünf historischen Plätze der Altstadt Habana Vieja, die dank der Unesco in den vergangenen Jahren saniert wurden. Im Morgengrauen wuchten Händler ihre Koffer über das Kopfsteinpflaster, stellen ihre Holzgerüste auf und sortieren vergilbte Schmöker in die Regale. Literatur von Leonardo Padura, José Lezama Lima und natürlich José Marti, dem Nationalhelden Kubas, dessen Statue vor jeder Schule steht. Den vorbeischlendernden Touristen werden jedoch Werke eines anderen Schriftstellers feilgeboten. Eines amerikanischen, ausgerechnet. Um die Ecke, im Hotel Ambos Mundos, hat Ernest Hemingway in den Dreissigerjahren den Klassiker «Wem die Stunde schlägt» auf seiner Hermes Baby getippt. Im obersten Stock, in Zimmer 511. Für umgerechnet zwei Franken dürfen Touristen einen Blick in sein ehemaliges Arbeitszimmer und auf seine Schreibmaschine werfen.
Fast dreissig Jahre hat der Literaturnobelpreisträger in Kuba gelebt, geschrieben und getrunken. Angestossen hat er am liebsten mit Daiquiri und Mojito, den auch die Einheimischen zum Mittag- und Abendessen schlürfen. Nahe der Plaza de la Catedral kehren wir in die La Bodeguita del Medi ein. Die kleine Bar mit der blauen Fassade war die Stammkneipe von «Papa» Hemingway, an den von Zigarrenqualm geschwärzten Wänden hängen Bilder des berühmten Gastes, der Barkeeper, in weisser Hose und weissem Hemd, mixt Mojitos im Akkord. «In einen guten Mojito gehören Wasser, Zitronensaft, Pfefferminze, Zucker – und Medizin», verrät er und zwinkert seinem Publikum zu. Rum ist neben Zigarren immer noch einer der Exportschlager Kubas.
Seitdem Künstler ihre Werke nicht mehr auf dem Schwarzmarkt verschachern müssen, floriert auch der Handel mit den Pinselstrichen. In der Calle Obispo, der Einkaufsstrasse Havannas, wurden dutzende Wohnungen zu Galerien umfunktioniert. Während im Wohnzimmer spanische Telenovelas über die Mattscheibe flimmern, auf dem Gasherd Reis und Bohnen köcheln, schneien Besucher spontan durch die Haustür herein, um die im Flur ausgestellten Bilder zu begutachten. Begehrtes Motiv: Oldtimer, mehr Kitsch als Kunst, aber wen stört es. Je greller die Farben, desto besser. Wir sind schliesslich in der Karibik und die zusammengeflickten Chevrolets und Buicks aus den Fünfzigerjahren das Wahrzeichen von Kuba. Die pinkfarbenen, hellblauen und zitronengelben Schlitten – Requisiten vor einer Kulisse aus kariösen Kolonialbauten, Kathedralen und Adelspalästen. An jeder Ecke schraubt ein Taxista an seinem Liebling rum, tönt es: «Taxi, Senora?».
Dabei gehört Taxifahren nicht zu den 178 Berufen, mit denen man sich selbstständig machen darf. Zu lukrativ ist wohl das Geschäft mit den Touristen. Dafür wird man mit Bürste, Kamm und Schere zum Unternehmer – oder mit ein paar Zimmern. Wer sich auf das Land und die Leute einlassen möchte, sollte einen grossen Bogen um die All-inclusive-Bettenburgen von Varadero machen und sich in einer Casa Particular einquartieren. Seit der Reform schiessen die Privatunterkünfte wie Tabakpflanzen aus dem Boden. Ein blaues Symbol im Hauseingang, das wie ein auf dem Kopf stehender Anker aussieht, kennzeichnet die Pensionen. Die Inhaber müssen neuerdings nicht mehr im selben Haus wohnen und dürfen mehr als zwei Zimmer vermieten.
Die Beschränkung für die Zahl der Gäste wurde auch für die Paladares aufgehoben. Die Privatrestaurants, in denen bislang nur Onkel, Tanten und Cousinen servierten, dürfen nun mehr als zwölf Gäste bewirten und Personal einstellen, das nicht zur Familie gehört. La Esperanza, Dona Carmela, El Atelier – die Liste der Paladares wird von Woche zu Woche länger, aber schliesslich ist das Essen auch in den meisten Fällen um Längen besser als in den staatlichen Restaurants, vom Service ganz zu schweigen. Wir haben einen Tisch im La Guarida ergattert, dem bekanntesten Paladar. Seitdem 1992 der oscarnominierte Film «Fresa y Chocolate» hier gedreht wurde, läuft ohne Reservierung gar nichts. Mehr als ein Jahr hatte La Guarida geschlossen, erst vor wenigen Monaten wurde es wieder eröffnet. Der Besitzer habe eine Dependance in Madrid eröffnen wollen, munkelt man hinter vorgehaltener Hand. Den genauen Grund kennt niemand, Gerüchte und Spekulationen gehören in Kuba ebenso zum täglichen Leben wie plötzlich vor verschlossenen Türen zu stehen.
Der Weg ins abendliche Centro Habana ist nur etwas für Nachteulen. Verglichen mit anderen Grossstädten, die nachts ein strahlendes Lichtermeer sind, ruht die 2,2-Millionen-Metropole wie ein See. Strassenlaternen sind rar, erleuchtete Fenster ebenso. Zwar sind die Stromausfälle seltener geworden, dennoch gleicht die nächtliche Kurverei der Fahrt durch eine Geisterbahn. Streunende Hunde, Nachtschwärmer und Pferdekarren kreuzen die Fahrbahn, dank etlicher Ausweichmanöver landen wir schliesslich vor dem La Guardia. Ein silberfarbener Mercedes mit schwarzem Kennzeichen parkiert vor dem Eingang. Diplomaten. Wir nehmen die 52 Stufen der weissen Marmortreppe und steigen in den dritten Stock. Vorbei an bröckelnden Säulen und Stuck, die vom Glanz längst vergangener Zeiten zeugen. Vor einer Holztür drücken wir auf die Klingel – und erleben einen «Alice im Wunderland»-Moment.
Kerzenschein taucht die hohen Räume der Fünf-Zimmer-Wohnung in ein sanftes Licht. An der Decke hängt ein Kronleuchter, an den Wänden Kacheln, Gemälde, alte Fotografien und ein Filmposter von «Fresa y Chocolate». Man sitzt auf Antiquitäten, auf dem Balkon mit dem schmiede eisernen Gitter stecken Pärchen die Köpfe unter dem Sternenhimmel zusammen. Eine Szene, wie sie auch kein Regisseur schöner hätte inszenieren können. Nachdem wir uns mit Wassermelonen-Gazpacho mit gebratenen Shrimps, Schweinefilet an Pflaumen und Bananenchips gestärkt haben, beschliessen wir, das Nachtleben von Havanna zu erkunden.
Auch wenn das romantische Bild von Kuba, das in den Köpfen vieler Europäer vorherrscht, mit Weichzeichner gemalt ist, es an allen Ecken und Enden mangelt – etwas ist im Überfluss vorhanden: Musik und Lebensfreude. Sobald sich die Sonne in den Atlantik gestürzt hat, verwandelt sich der Malecon, die acht Kilometer lange Uferpromenade, die sich vom Hafen Havannas bis zum Stadtteil Vedado zieht, in eine Partymeile. Das heisst, wenn nicht gerade ein Wind das Meer über die Kaimauer treibt und die Strasse flutet. An lauen Abenden greifen sich die Habaneros Gitarre, Transistorradio und eine Flasche Rum und lümmeln sich auf dem «längsten Sofa der Welt». Auf den Fensterbänken der gegenüberliegenden Häuser lauschen die Anwohner den Salsa-Klängen, die durch die Dunkelheit tanzen.
Wer genug Pesos Convertibles in der Tasche hat, besucht einen der zahlreichen neuen Clubs, die Kuba wieder zur Partyhochburg der Karibik haben werden lassen. Nirgendwo sonst spielen so viele Live-Bands, wird gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Die Nacht, ein einziger Rausch, denn wer weiss schon, wie der nächste Tag aussieht. Erste Adresse in Havanna ist die Casa de la Musica im Gebäude der legendären Egrem Studios, in denen das Album des Buena Vista Social Clubs aufgezeichnet wurde. Auch der britische DJ-Guru Gilles Peterson hat hier sein jüngstes Projekt verwirklicht: «Havana Cultura», kubanische Klassiker, neu interpretiert. «Wir haben über ein Dutzend junge Musiker eingeladen. Alle sind gross artig, aber leider in Europa völlig unbekannt. Ich hoffe, das ändern zu können.»
Zumindest in Kuba geschafft hat es, wer auf der Bühne der Casa de la Musica steht. Wie etwa Candyman, einer der Stars des Reggaeton, einer Mischung aus Reggae, Dancehall, Hip-Hop und Elektro, die in ganz Kuba zu hören ist. Candyman, mit Ray-Ban-Sonnenbrille, Stone-Washed-Jeans, die in den Kniekehlen hängt, und Goldkette, rappt ins Mikrofon, die zehnköpfige Band liefert den Sound dazu. Die Menge tobt, die Stimmung ist aufgeheizt. Männer zischeln Frauen hinterher, die Kleider sind so kurz, als wären sie für Barbie gemacht, Mojitos rinnen die trockenen Kehlen hinunter, die Hüften schwingen, die Tische sind zur Tanzfläche geworden. Sobald die letzten Klänge verklungen sind, wird im nächsten Klub weitergefeiert, nur ein Stockwerk höher. Vor sechs Uhr morgens geht hier niemand nach Hause – und alleine sowieso nicht.
Vor wenigen Monaten hat die kubanische Regierung ihren Bürgern Reisefreiheit gewährt. Ob Kuba sich dem Westen öffnen wird, bleibt abzuwarten. Schliesslich betont Raul Castro, am «sozialistischen Charakter» Kubas festhalten zu wollen. Solange bleibt sie noch eine «Insel hinter dem Mond» – die ihre ganz eigene, wunderbar melancholische Geschichte erzählt.
Von Tina Bremer
Begeistert und berührt von Kuba?
Dann schauen Sie sich noch dieses wunderschön und sensibel gefilmte Video von Guillaume Le Berre an
INCUBATION from 5mars on Vimeo.
15 days in the Cuba Nation.
Realization: Guillaume Le Berre – www.5mars.com
Sountrack: Pix – To Begin Again
Philip Glass – The Photographer A Gentleman’s Honor
Filmed with Panasonic Gh2 (Nokton Voigtlander 25mm, Olympus 9-18mm and Leitz Elmarit-R 90mm f2,8)