Marseille hat sich stark gewandelt und ist das Tor zu einer Region, in der Kunst zum Savoir-vivre gehört. Die neue Inspiration in Marseille, Aix-en-Provence und Arles.
In Arles stehen die Römer neuerdings im Schatten. Rund 2000 Jahre lang haben vor allem ihre zahlreichen Bauten die hübsche kleine Stadt der Provence geprägt, und wenn im Amphitheater aus dem ersten Jahrhundert nach Christus im Herzen der Altstadt die Stierkämpfe anstehen, pilgert das Volk heute noch vergnügt in die altehrwürdigen Ränge. Allerdings wird beim arlschen Spektakel kein Bulle getötet. Vielmehr geht es darum, die Schönheit und Kraft der Tiere zu zelebrieren, die danach wieder friedlich auf den Weiden der Camargue grasen.
Seit kurzem aber stiehlt den historischen Unesco-Bauten ein von weitem sichtbarer Turm die Show. 56 Meter hoch ragt er in den Himmel, zieht die Aufmerksamkeit mit seiner einmaligen Erscheinung auf sich. Ein Werk des Star-Architekten Frank Gehry. Die Fassade aus unzähligen Metallteilen spiegelt den Himmel über Arles und spielt mit dem Licht, das schon so viele Künstler inspiriert hat.
Mäzenin aus der Schweiz
Der Turm ist das Herzstück des grössten Kulturprojektes, das in Frankreich zurzeit gebaut wird. Luma Arles, eine Plattform für Kunstschaffende, Wissenschafter und Initianten, die hier interdisziplinär zusammen arbeiten und ausstellen können. Auf der zehn Hektar grossen ehemaligen Industriezone der Bahn entsteht eine Begegnungszone für Kunstschaffende, Kunstinteressierte und Besucher, ein Treffpunkt für verschiedenste Sparten und Ideen. Gehrys Turm wird bald in einen grossen öffentlichen Park übergehen, und die sechs historischen Industriegebäude auf dem Areal wurden renoviert, um sie als Werkstätte und Künstlerresidenzen, für Ausstellungen, Workshops und Performances zu nutzen.
Träger des ambitionierten Projekts in der kleinen Stadt mit rund 53 000 Einwohnern ist die Luma Stiftung, hinter der die Roche-Erbin und Kunstsammlerin Maja Hoffmann steht. Rund 150 Millionen Euro soll sie investieren. Aufmerksame Reisende begegnen der Schweizerin, die in Arles aufgewachsen ist, noch an anderen Stellen: Im aussergewöhnlichen «Hôtel du Cloître» in der Altstadt fällt ihr Name, gleich wie im wunderschönen Restaurant La Chassagnette auf dem Land, das mit seiner vegetarischen Küche einen Michelin-Stern eingeheimst hat.
«Sie tut viel für unsere Region», bestätigt Jean-Pierre Boeuf, Direktor des lokalen Tourismusbüros. Er stösst sein Elektrovelo für einmal und schwärmt von seiner Stadt, vom Licht und der Schönheit, vom reichen historischen Erbe, das sich in Arles besonders ästhetisch und auf kleinem Raum mit der Kunst verbinde. Arles ist Kennern wegen des internationalen Fotografentreffens «Rencontres d’Arles» und der nationalen Hochschule für Fotografie ein Begriff. Liebhaber der Malerei aber kennen Arles wegen Vincent van Gogh. 15 Monate lebte der Künstler hier und schuf rund 300 Werke. Einen Ausschnitt davon – und viel anderes – zeigt die Fondation Vincent van Gogh. Sie wurde 2014 eröffnet, mit Unterstützung von Maja Hoffmanns Vater Luc Hoffmann.
Wir begegnen Jean-Pierre Boeuf am frühen Abend in einer der hübschen Gassen nochmals. Eine Galerie feiert Vernissage. Auf der Strasse wird Wein getrunken und Käse gereicht, Kinder schlängeln sich an den Besuchern vorbei, Hunde strecken sich auf dem Pflaster. Boeuf winkt: «Venez, venez! Das ist Arles!» Bei schönster Abendstimmung wird verständlich, warum dieses Licht so viele Künstler fasziniert.
Bei Cézanne im Atelier
Arles hat Vincent van Gogh, Aix-en-Provence hat Paul Cézanne. Die Stadt nicht weit von Marseille ist ein Gesamtkunstwerk. An diesem Morgen herrscht reger Betrieb auf dem Cours Mirabeau. Es ist Markt. Französinnen in langen Kleidern machen ihre Einkäufe, Männer mit Sonnenbrillen warten in den Cafés. In der Brasserie «Les Deux Garçons» sassen schon Cézanne und sein Freund Emil Zola auf der Terrasse, und auch Picasso, der Cézanne verehrte, war oft in der Region. Gleich neben dem Café hatte Cézannes Vater sein Hutgeschäft, der Schriftzug ist noch erkennbar. Der Künstler selbst zog sich zum Arbeiten in ein Atelier auf dem Hügel zurück. Ein Besuch im Haus mit verwunschenem Garten lohnt sich nicht nur für Fans. Durch ein grosses Fenster strömt das sagenumwobene Licht in den Arbeitsraum und setzt kleine Dinge und Werkzeuge in Szene.
Während in Cézannes Atelier gegen die Spuren der Zeit angekämpft wird, hat die Stadt nahe der Fussgängerzone eine Ecke geschaffen, in der Kunst und Kultur aktiv gelebt wird. Ebenfalls auf ehemaligem Industrieboden stehen heute das moderne Grand Théâtre de Provence, der Pavillon Noir des «Ballet Preljocaj», das Konservatorium und die Bibliothek. Sextius-Mirabeau ist eine Art Ausgehmeile für Kulturinteressierte. Nach einem Spaziergang durch die wunderbare Altstadt von «Aix», die mit ihren mediterranen Fassaden in warmen Gelb-, Orange- und Ockertönen eine einmalige Atmosphäre schafft und Besucher in eine entspannte Stimmung versetzt, und das gepflegte, ruhige Quartier Mazarin, wo Frauen auf der Strasse zeichneten, wirkt das neue Viertel auf den ersten Blick etwas kühl. Wären da nicht die jungen Menschen, die über dem Fluss sitzen oder mit raschen Schritten und grossen Rucksäcken vorübereilen.
Le Corbusiers Idee vom Wohnen
In Marseille ist die Jugend eher auf Scootern unterwegs. Die zweitgrösste und älteste Stadt Frankreichs, ein Schmelztiegel der Kulturen, eine Metropole am Mittelmeer, hat ihr Gesicht stark gewandelt. Sie ist hübscher geworden, hat Fussgängerzonen und schöne Promenaden erhalten. Direkt am Meer ist sie auch Ziel für Badenixen, der Nationalpark Calanques zieht Wanderer und Kletterer an. Doch Kunst und Kultur wird auch hier grossgeschrieben. 2013 war Marseille Kulturhauptstadt, was ihr unter anderem das Mucem, das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeeres, bescherte. Sein Bau verbindet gekonnt das Neue mit dem Historischen. Architekturfreunde finden in Marseille ein weiteres Highlight: La Cité Radieuse von Le Corbusier. Das Gebäude mit 337 Wohnungen, mit dem der Schweizer den Versuch eines neuen Wohnsystems lancierte, ist auch aus Sicht des Zusammenlebens und der Wohnform in den 1950er Jahren interessant. Das Projekt war revolutionär zu seiner Zeit. Ärzte hatten Bedenken, ob sich nicht Krankheiten ausbreiten würden im «Maison du Fada», im Haus des Verrückten. Heute wohnen Liebhaber da und Gäste des Hotels.
Zurück in der Altstadt bei einem Glas Rosé im schönen Viertel Le Panier, die Sonne schafft es gerade noch über die Dächer der Häuser, wird klar: Nicht jeder wird zum Künstler im Licht der Provence. Doch wer ein paar Tage in ihm badet, lernt rasch die Kunst des schönen Lebens.
Von Stefanie Schnelli
GUT ZU WISSEN
Anreise: Swiss fliegt von Frühling bis Herbst mehrmals wöchentlich von Zürich nach Marseille. Vor Ort lohnt sich ein Mietwagen. swiss.com
Hotels:
Arles: Hôtel du Cloître. Moderne Inneneinrichtung in alten Mauern. hotelducloitre.com
Aix-en-Provence: Hotel Renaissance im neuen Kultur-Viertel. marriott.com | Hotel Les Lodges Sainte Victoire. Nicht im Zentrum, in wunderschöner Umgebung, ausgezeichnetes Restaurant. leslodgessaintevictoire.com
Marseille: Hotel Sofitel. Modernes Haus, schöne Aussicht. sofitel.com
Restaurants: La Chassagnette in der Camargue, mit Michelin-Stern ausgezeichnete vegetarische Küche. Reservieren! chassagnette.fr
Kunst:
Marseille: Museum Vieille Charité. Eindrückliche Lokalität. vieille-charite-marseille.com | Mucem: Direkt am Meer, aussergewöhnlicher Bau. mucem.org | La Cité Radieuse von Le Corbusier. marseille-citeradieuse.org | Château La Coste. Weingut mit Park voller Kunstobjekte, mehrere Restaurants, Hotelzimmer. chateau-la-coste.com
Aix-en-Provence: Atelier Cézanne. atelier-cezanne.com | Centre d’Art Caumont: Wunderschöner Stadtpalast, interessante Ausstellungen. caumont-centredart.com
Arles: Luma Arles. Café und verschiedene Ausstellungsräume sind geöffnet, komplette Fertigstellung 2020. luma-arles.org | Fondation Van Gogh. fondation-vincentvangogh-arles.org