«Wie sehe ich aus?» – «Grossartig!» Längst hat die Lüge auch eine positive Spielart und gehört zu den guten Taktiken im alltäglichen Umgang. Auch in der Liebe hilft sie weiter – aber nicht immer.
«Du siehst grossartig aus!» Die Situation ist ein Klassiker im Beziehungsleben, die Szene sieht erst recht trivial aus, aber lässt doch tief blicken in die Projektionsflächen, die zwei sich bieten, in ihre Ausweich- und Täuschungsmanöver. Der Moment mag einem vertraut vorkommen. Bevor Sie ausgehen, tun Sie das, was Sie womöglich wider besseres Wissen doch wieder tun. Sie fragen Ihren Partner, denn er soll ihr wohlwollender und ehrlicher Spiegel sein: «Wie sehe ich aus?» In den meisten Fällen heisst die Antwort «grossartig!», und wahrscheinlich ist es eine Lüge.
Das tun ganz viele ehrliche Menschen, und wenn das kein Argument ist, dann ist es in Ordnung so. Die Lüge streift schliesslich die Grenzen zur Höflichkeit (Wenn dir nichts Nettes einfällt, dann sag gar nichts) und zur guten Erziehung: Zum Geschenk sagt man in jedem Fall danke. Eben haben Psychologen herausgefunden, dass wenig lügen und gute Gesundheit zusammenhängen. Und doch oder vielleicht gerade deshalb hat in Zeiten der Political Correctness die – milde – Lüge längst eine verführerische Note bekommen. Ob es nun eine Selbstrechtfertigung von sportlichen Flunkerern ist oder nicht, eine kreative Leistung ist dem Lügner nicht abzusprechen: Schliesslich muss er sich etwas einfallen lassen.
Kein Königreich ohne Lügen
Schon Henrik Ibsen, Theaterautor und Durchleuchter von Lebenslügen aller Art, hat die Täuschung auch in ihrer positiven Variante durchgespielt. In seinem Stück «Baumeister Solness», welches 1893 uraufgeführt wurde, ist dies lebhaft zu sehen. Darin baut eine junge Frau seit zehn Jahren an ihrem Luftschloss, das aus einem «Königreich» besteht und einen unantastbaren Helden braucht. Dessen Vorbild ist in der Wirklichkeit des Stücks ein Karrierist von mehr als zwiespältigem Format, was die junge Frau aber nicht wahrhaben will. Oder anders: darauf baut man kein Königreich.
Moralisch ist es verwerflich zu lügen, das Leben bietet dazu jedoch ein paar Zwischentöne. Untersuchungen dazu gibt es viele. Ein paar Befunde: Frauen lügen nicht weniger als Männer, aber mit anderem Ziel. Während Frauen damit eher versuchen, jemand anderes zu schützen, jemandem eine Freude zu bereiten und dergleichen, so rücken sich Männer mit Lügen eher selber in möglichst positives Licht. Extrovertierte und sozial geschickte Menschen lügen eher, aber irgendwie gutherzig, das heisst ohne tatsächlich eine Unwahrheit verbreiten zu wollen, sondern vielmehr, um eine soziale Situation zu beflügeln: Das Kompliment zum neuen Kleid im Büro, das Lob an den Koch/die Köchin bei einer Einladung, der Kick zur Konversation. Es gibt Listen über die häufigsten Lügen im Büro, wobei die Ausflucht, um sich Zeit für die Kinder freizuschaufeln, weit oben in den Rängen liegt. Und es gibt verwirrliche Fälle in der Politik.
Wie ist das möglich? Robert Feldman, Professor für Psychologie an der University of Massachusetts und seit Jahren Forscher über die Psychologie der Lüge, meint: «Vor allem, weil es um Sex ging. Bei diesem Thema sind Menschen eher bereit, Lügen zu akzeptieren.» Man könnte auch sagen: Gäb es nur die Wahrheit in der Welt, sie wäre womöglich enthaltsam und keusch. Selbst Forscher Feldman hat zugegeben, seiner Frau den Satz aufzutischen: «Du siehst grossartig aus.» Es gebe eben Fälle, so sagt Feldmann in einem Interview, in denen der andere die Wahrheit weder kennen wolle noch müsse. Wer das Recht hat, zu bestimmen, was ein anderer will, wäre auch eine interessante Frage.
Die Liebe begünstigt Lügen, ausgerechnet. Nähe schafft Intimität und Vertrauen, aber nährt auch den Wunsch und formt die Perspektive, den Partner im besten Licht zu sehen und sehen zu wollen. Will heissen: sein Wort, seine Handlungen für echt und wahr zu nehmen. Von Seitensprüngen erfährt der Partner bekanntlich zuletzt. Mehr noch: Die Liebe braucht sogar Lügen, besagt eine einleuchtende These – sie ist der einzige Ausweg aus der Intimität, wenn sie zu eng wird. So komme es, dass wir besonders in Liebesbeziehungen gleichzeitig wahrhaftig und verlogen sind; dass wir denen am meisten trauen, die uns am ehesten hinters Licht führen, und diejenigen selber täuschen, die uns lieben und vertrauen.
So wäre die Lüge in der Liebe ja irgendwie rehabilitiert, gäbe es da nicht noch das andere Gesetz: Lügen ziehen weitere Lügen nach sich, und so wachsen sich kleine Täuschungen zu grossen Lügen aus. Lügenforscher Feldman empfiehlt daher, keine Beziehung auf Unwahrheiten aufzubauen – lieber die Wahrheit schnell gestehen und die Beziehung riskieren. Bricht sie, war sie ohnehin nicht das Richtige, übersteht sie es, baut sie auf einem wahren Fundament besser.
Lieber Beziehung riskieren
«Daily Mail» hat kürzlich Paare gefragt, was sie wirklich denken, wenn der Mann seiner Frau Komplimente macht bei der privaten Modeschau. So sagt jetzt einer online, was er seiner bis anhin verschwiegen hat: Mehlsäcke hätten bessere Formen als seine Frau im goldenen Kleid. Ein anderer, dessen Partnerin gerne Schichten trägt, meint nun öffentlich: Sie trage verschiedene Versionen desselben Looks: Russische Bäuerin trifft auf Frau des Inka-Stammes; weder einladend noch einleuchtend, wo sie doch Zentralheizung hätten und weder in Sibirien noch in den Anden lebten. Ein Dritter meinte zur Lieblingsfarbe seiner Partnerin – Grau –, ihre «Fifty Shades of Grey» hätten leider nichts zum Liebesleben beigetragen.
Der gemeinsame, durchaus mit phantasievoller Bosheit vorgetragene Tenor: Könnten wir bitte etwas mehr Figur sehen? Die Reaktionen der Partnerinnen: Kleider sollen hübsch und tragbar sein und einen ins beste Licht rücken. Wer kritisiert, soll mal die eigene Garderobe überprüfen.
Wie gesagt, das muss man nicht abendfüllend finden, ganz abgesehen vom Schock, den die «Wahrheit» ohne Not auslöst. Aber bemerkenswert wird man schon finden, wie aus den Reaktionen der Frauen verinnerlichte Schönheitsideale, Anerkennungsdefizite und das Bestehen auf einen eigenen Stil sprechen. Dahinter stecken geradezu grosse Geschichten: Wie es sich anfühlt, drei Kinder zu haben. Wie es, «glauben Sie mir», ganz richtig ist, den eigenen Körper zu verstecken. Wie «ich an einem Punkt im Leben bin, an dem ich mich mehr für den Dessert interessiere als für ein Kompliment von Tom».
von Nina Toepfer