Die Liwa-Oase ist das Tor zur grössten Sandwüste der Welt, der Rub Al Khali. Sie ist auch die ursprüngliche Heimat der heutigen Herrscherfamilien von Abu Dhabi und Dubai.
Das Herz dieser Nation liegt tief im Landesinneren verborgen. In Dubai und in der Hauptstadt Abu Dhabi kann man lediglich den Pulsschlag der Vereinigten Arabischen Emirate spüren. Ihre Heimat verbinden die Herrscherfamilien auch heute noch mit der Liwa-Oase, der Region, in der alles begann.
Ein Meer aus endlosen Sanddünen liegt hier vor einem wie ein versteinerter Wüstenozean. Eine Kamelkarawane zieht vorbei und eine Herde Oryxe. Zu hören ist davon nichts, denn die Wüste schluckt jeden Laut. Und doch kann die Stille hier auf unglaubliche Weise laut sein. Wenn man endlich eine der fast 200 Meter hohen Sanddünen erklommen hat und sich oben auf den Dünenkamm setzt, um schweigend auf diese lebensfeindliche Landschaft zu schauen, ist es plötzlich zu hören, das laute Pochen des eigenen Herzens.
Die Suche nach der eigenen Identität treibt heutzutage viele stressgeplagte Städter in die Wüste. Dabei könnte man seine Identität wohl nirgendwo besser verlieren als in der Rub Al Khali, der grössten zusammenhängenden Sandwüste der Welt: 680 000 Quadratkilometer umfasst sie – eine Fläche, die fast zweimal so gross ist wie Deutschland. Sie reicht von den Emiraten bis weit nach Saudi-Arabien hinein, erstreckt sich bis in den Oman und nach Jemen, und sie bedeckt etwa ein Viertel der Arabischen Halbinsel.
Auf der Schnellstrasse in die Oase
Die Liwa-Oase ist das Tor zu diesem sogenannten Leeren Viertel, das auf Arabisch Rub Al Khali heisst. Der britische Diplomatensohn Wilfred Thesiger durchquerte in der Nachkriegszeit als dritter Europäer dieses Leere Viertel. Bevor er mit seiner Kamelkarawane in Liwa ankam, enthielten die Landkarten über diese Gegend nur riesige weisse Flächen. Thesiger zählt zu den letzten grossen Entdeckern des 20. Jahrhunderts. Jedoch musste er später miterleben, wie die von ihm beschriebene Welt, die über Jahrtausende unverändert überdauert hatte, binnen einer Generation verschwunden war. Denn nach ihm kamen Ingenieure und Ölsucher.
Wie eine verheissungsvolle Fata Morgana aus Tausendundeiner Nacht darf man sich die Liwa-Oase deshalb heute nicht mehr vorstellen. Von der Hauptstadt Abu Dhabi aus sind es mit dem Auto nur knapp zwei Stunden auf einer vierspurig ausgebauten, schnurgeraden Schnellstrasse. Schliesslich haben die modernen Oasenbewohner nicht ewig Zeit. Sie sitzen in voll klimatisierten Luxuskarossen und Häusern mit fliessend Wasser und Satellitenanlagen. Laut Schätzungen leben zwischen 50 000 und 100 000 Menschen in der Liwa-Oase, einem riesigen Gebiet, das sich aus mehr als 50 einzelnen Oasen mit etwa 40 Dörfern zusammensetzt. Anders als in den grossen Städten des Landes liegt der Anteil der Einheimischen noch bei fast 70 Prozent. Doch auch hier kann sich kaum mehr ein Emirati vorstellen, in der Landwirtschaft zu schuften. Die Pflege der Dattelhaine sowie die Kamelzucht erledigen längst ausländische Saisonarbeitskräfte.
Ein Hotel wie eine Fata Morgana
Aber auch wenn die Einheimischen heute lieber in ihren Geländewagen über die Dünen brettern, statt mit Kamelen den alten Karawanenrouten zu folgen, ist jeder Emirati davon überzeugt: Liwa ist das Herz der Nation. Denn bereits im 17. Jahrhundert bevölkerten die Bani-Yas-Beduinen die Oase. Aus ihnen gingen die Al Nahyan und die Al Maktoum, die heutigen Herrscherfamilien von Abu Dhabi und Dubai, hervor. Damals lebten die Beduinen von den Dattelplantagen der Oase und zogen in den Sommermonaten ans Meer zum Fischen und zum Perlentauchen. Noch bis zur Unabhängigkeit des Landes vor mehr als 45 Jahren war das so. Das änderte sich aber, nachdem die Japaner die künstliche Perlenzucht etablierten. Abu Dhabi ist inzwischen durch einen ganz anderen Schatz reich geworden: Öl.
Die Regierung von Abu Dhabi will das Leere Viertel heute unter Einhaltung hoher Umweltschutzauflagen auch touristisch erschliessen. Bereits 2009 eröffnete Scheich Khalifa in der Liwa-Oase eine der spektakulärsten Hotelanlagen des Emirats: den Palast der Fata Morgana, arabisch Qasr Al Sarab. Wie der Name schon ahnen lässt, will man für die Gäste jene Zeiten wiederbeleben, die mehr den romantischen Vorstellungen einer Oase entsprechen. Wasser plätschert hier reichlich in Springbrunnen und Swimmingpools. Die Besucher unternehmen Exkursionen in die Dünen, gehen mit Falken auf die Jagd oder reiten auf Kamelen zum Sonnenuntergang – entspannt als Feriengäste. Vor Strapazen früherer Wüstendurchquerer werden sie gewiss verschont bleiben. Die Vielfalt der Schattierungen und Farben der Sanddünen von Liwa wird aber auch ihnen nicht verborgen bleiben, denn sie reichen direkt bis vor die Zimmertür. Sie leuchten von schwarz über rot, rosa, ocker bis weiss. Dass es in der Wüste kaum ein Geräusch gibt, ist nicht ganz richtig. Sobald der Wind Wellenmuster in die Dünen zaubert und der Wüstensand in wilden Spiralen über den Boden tanzt, beginnt der Sand plötzlich zu singen. «Singing Sands» nennen das die Beduinen, wenn der Wind Musik macht, indem er die feinen Sandkörner aneinanderreibt.
Von Margrit Kohl, Bilder: Abu Dhabi Tourism & Culture Authority