In der polnischen Provinz Lubuskie unweit von Berlin gibt es mit dem «Ostwall» nicht nur eine der grössten Bunkeranlagen der Welt zu entdecken. Auch oberirdisch wartet die Region mit Superlativen auf.
Die Idylle trügt. Auf den ersten Blick wirkt der Wald von Lubuskie friedlich und schön mystisch. Aber wer ihn näher erkundet, entdeckt Überreste einer düsteren Vergangenheit.
Die Region Lubuskie im Westen Polens hat historisch vor allem wegen ihrer geostrategisch exponierten Lage Bedeutung erlangt. Auf der transeuropäischen Kreuzung zwischen Berlin und Moskau sowie zwischen Skandinavien und Südeuropa gelegen, hat Hitler den Landstreifen zwischen Oder und Warthe in den 1930er Jahren als Schutzwall gegen Osten mit einer gigantischen Bunkeranlage befestigt: dem sogenannten «Ostwall» von rund 80 Kilometer Länge – inklusive eines fein vernetzten Tunnelsystems mit unterirdischen Bahnhöfen, Werkstätten und Spitälern. 1945 wurde die Front von der Roten Armee «befreit», ausgeschlachtet und seither mehr oder weniger sich selbst überlassen. Entsprechend überwuchert präsentieren sich die meisten Bunkerruinen heute. Man kann ihnen durch die verwunschenen Wälder streifend auf Schritt und Tritt begegnen. Es lohnt sich aber, gutes Schuhwerk zu tragen, denn ein Spaziergang durch diesen «Abenteuerspielplatz» ist nicht ganz ungefährlich. Immer wieder trifft man auf gesprengte Anlagen, die teils tief klaffende Krater in den Waldboden gegraben haben. Langsam erobert sich die Natur die Ruinen zurück, die mit ihren «Platzwunden» einen Blick freigeben auf groteske Strukturen aus meterdicken Stahlkappen und auf felsenartige Betonklötze, aus denen rostige Armierungseisen ragen. So erinnert ein Streifzug durch die bunkerdurchadertenWälder paradoxerweise an einen Spaziergang durch Angkor Wat.
In jüngerer Zeit hat man das touristische Potential dieser Ruinen erkannt: Neben einem sehenswerten Bunkermuseum, wo man die Anlagen im Betriebszustand erleben kann, ist das gespenstige Bunker-Labyrinth – heute Heimat für eine der grössten Fledermaus-Populationen Europas – dank einer Initiative lokaler Aktivisten inzwischen auch auf befestigten Wegen zugänglich und mit Informationstafeln ausgeschildert. Zudem gibt es Guides, welche die Gäste gerne begleiten. Treibende Kraft hinter diesem Projekt ist der 36-jährige Damian Kadubliski, Besitzer einer «Sozialfirma», der in der Region aufgewachsen ist und mit Häftlingen aus den lokalen Gefängnissen zusammen die Bunkeranlagen pflegt.
Trotzdem ist Lubuskie immer noch ein touristischer Geheimtipp, der neben militärhistorisch interessierten Gästen zunehmend auch Naturliebhaber begeistert. So lässt sich die Region sowohl zu Land – auf dem Rad und zu Fuss durch wunderbar aromatische Wälder und Dörfer streifend – oder zu Wasser im Kanu auf den zahlreichen Flüssen und an Seen weilend – als inzwischen naturgeschützte Idylle erkunden. Für Freunde monströser – von Menschenhand geschaffener – Inszenierungen wartet Lubuskie neben den Bunkern auch mit der angeblich höchsten Jesus-Statue der Welt auf, die am Ende eines Kreuzweges mit stoischem Blick über einen Tesco-Supermarkt hinweg nach Westen blickt und mit dem Hintern nach Russland weist. Dieses Setting kommt nicht von ungefähr, zumal die Sowjetunion während des Kalten Krieges vor allem als rücksichtslos destruktive Besatzungsmacht in Erinnerung blieb. Seit dem Mittelalter zur Mark Brandenburg gehörig, orientierte sich die Region zudem schon immer tendenziell Richtung Westen. Davon zeugen auch die Städte, die einst von jüdischen, protestantischen und katholischen Einflüssen geprägt, allesamt auch deutsche Namen tragen. Von Berlin aus, das eine gute Autostunde enfernt liegt, lässt sich die Region einfach als Abstecher besuchen. Doch es lohnt sich, einen mehrtägigen Aufenthalt zu planen. Einen konkreten Anlass für eine Entdeckungstour bietet am ersten Augustwochenende das «Woodstock Festival» in Kostrzyn, eines der grössten Openair-Festivals Europas, wo rund 750 000 Besucher erwartet werden.
Text Simon Bühler, Fotos Mariusz Radomyski