Okhaldhunga im Osten Nepals gehört zu den wildesten Regionen des Himalaya-Staates. Dichter schwärmen von ihrer rauen Schönheit. Doch immer mehr Bewohner verlassen das vermeintliche Paradies.
Dishebh Raj kniet auf der Treppe einer Fussgängerüberquerung in Nepals Hauptstadt Kathmandu und malt in farbigen Lettern einen Vers auf die Treppenstufen. «In deinem grünen Schoss, / auf deiner kühlen Brust / habe ich meine Kindheit verbracht, / oh mein geliebtes Okhaldhunga.» Es ist der Anfang eines Gedichtes von Siddhi Charan Shrestha. Shrestha erinnert sich darin an seine Kindheit im nepalesischen Distrikt Okhaldhunga, einer armen, wilden, wunderschönen Region. Dishebh, der junge Künstler aus Kathmandu, will die von Verkehrslärm und schlechter Luft geplagten Hauptstädter mit seiner Malaktion daran erinnern, dass es ausserhalb Kathmandus noch ein anderes Nepal gibt, ein grünes, urtümliches Nepal: das Nepal aus Siddhi Charans Gedicht.
32 000 Haushalte, 52 Kühlschränke
Okhaldhunga liegt nur ein paar hundert Kilometer östlich von Kathmandu – und doch scheint der Distrikt wie aus einer anderen Welt. Der einzige Landweg ist eine gefährliche Schotterstrasse. Einmal die Woche fliegt ein Propellerflugzeug von der Hauptstadt in die Ortschaft Rumjatar. Doch der Flieger ist selten gut gefüllt. Kaum jemand aus Kathmandu war je in Okhaldhunga. Touristen verirren sich nur selten hierhin. Die Region hat keine wirklichen Sehenswürdigkeiten und nur wenige Gasthäuser. Für manche Reisende aber macht genau das den Reiz aus. Nepal ist touristisch perfekt erschlossen, vom Gipfel des Everest bis hinunter in die üppigen Tiefen des Chitwan-Urwalds. Nur Okhaldhunga wurde irgendwie vergessen. Es scheint, als wäre hier alles so, wie es immer schon war. Rund 32 000 Familien leben laut der jüngsten Volkszählung in der Region. 153 von ihnen haben einen Internetanschluss, 52 einen Kühlschrank, 29 ein Auto. Mehr als 90 Prozent arbeiten als Kleinbauern.
Auf unserem Weg aus Rumjatar hinaus geraten wir mitten hinein ins Gewimmel des Wochenmarkts. Meist gehe es hier friedlich zu und her, erzählt uns Ram Maja Rai, die auf dem Markt jeden Freitag Hirse und Mais verkauft. Doch heute sorgt der Händler Santosh Basnet für Aufregung. Er hat am Rande des Platzes eine Ziege geschlachtet und will das Fleisch für 400 Rupien (knapp vier Franken) pro Kilo verkaufen. «Verräter, Verräter!», ruft ein alter Mann und schwingt seinen Bambusstock bedrohlich in Richtung Santosh. In Rumjatar bestimmt ein Marktkomitee über die Kilopreise für Fleisch, Getreide und Gemüse. Ein Kilo Ziegenfleisch darf maximal 350 Rupien kosten. Doch Santosh ist verzweifelt. Auf dem Viehmarkt hatte er 22 000 Rupien für die Ziege bezahlt. «Ich war betrunken und habe viel zu viel bezahlt», erklärt er und reibt das Ziegenfleisch zum Schutz vor Fliegen mit Gelbwurz ein. «Kauf nie ein Ziege, wenn du betrunken bist», rät er uns zum Abschied und lächelt.
Die Macht der Frauen
Wir lassen Rumjatar hinter uns und brechen auf zum Bauerndorf Sisne Khola. Ein steiniger Weg führt uns den steilen Berg hinauf. Von Sisne Khola aus sieht man an guten Tagen den schneebedeckten Gipfel des HimalayaRiesen Mount Everest. Die aufziehenden Wolken versperren uns leider den Blick, dafür winkt uns der Wirt in die Dorfbeiz und tischt uns dampfendes Dal Bhat auf – Linsensuppe und Reis, das nepalesische Nationalgericht. Beim Tee schwärmt er uns von Sita Rai, der hiesigen Bürgermeisterin, vor. Wir treffen die 37Jährige auf dem mit Fingerhirse übersäten Vorplatz ihres Lehmhauses.
Die Bäuerin kann weder lesen noch schreiben, und doch ist sie die wohl mächtigste Frau in der Region. Seit zwölf Jahren ist sie Bürgermeisterin, Richterin, Bankverwalterin und Vorsteherin des Dorfparlaments. «Fast all unsere Männer sind in die Hauptstadt gezogen, um Arbeit zu finden», erzählt Sita. Deshalb hat sich die Dorfgemeinschaft entschieden, die politische Macht den Frauen zu übertragen. Am 10. Tag jedes Monats treffen sie sich im Gemeindehaus und diskutieren über Neuanschaffungen, Kreditvergaben und das Strafmass für Verstösse gegen die Dorfgesetze. Männer sind bei den Meetings nur als Zuhörer zugelassen. «Als wir vor einigen Jahren das Trinken ausserhalb des eigenen Hauses verboten haben, murrten einige. Aber meistens sind sie mit unseren Entscheiden einverstanden», lacht Sita und steht auf. Die Auerochsen müssen in den Stall geholt, die Hirsenzweige eingesammelt werden, bevor es Nacht wird. Elektrisches Licht gibt es hier keines.
Schweizer Strassen in der Wildnis
Am nächsten Tag mieten wir uns im Distrikthauptort Okhaldhunga Bazaar ein Motorrad mitsamt Chauffeur. Viele der Wege, die die verstreuten Dörfer untereinander verbinden, wurden von der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit finanziert. «Dank diesen Wegen können die Kinder aus den Dörfern zur Schule und die Bauern zu den Märkten fahren», ruft Talak Hayn, unser Chauffeur, in den Fahrtwind. Unser Blick schweift über die terrassierten Hänge, auf denen die Einheimischen Reis anpflanzen und in deren Wasserlachen sich der Herbsthimmel dramatisch spiegelt. Im Weiler Sani Tar halten wir, um nach einem Tee zu fragen. Dambar Bailkoti bittet uns in seine kleine Lehmhütte, schenkt Tee ein und erzählt. Vier Söhne habe er, keiner sei in Okhaldhunga geblieben. Zwei arbeiteten in Kathmandu, zwei auf einer Baustelle in Katar. «Ich habe kein Land, das ich ihnen hätte geben können. Sie sahen keine Zukunft in Okhaldhunga», sagt Dambar.
Als Dalits, als Angehörige der Kaste der Unberührbaren, haben er und seine Familie einen schweren Stand im nepalesischen Kastensystem, das hier noch immer Geltung hat. Sie dürfen weder Tempel betreten noch Land besitzen. Alles, was ihnen bleibt, ist sich als Tagelöhner zu verdingen. Das ist die dunkle Seite dieser rauen, wilden, wunderschönen Region. Für manche ihrer Bewohner ist das Leben unglaublich hart. Nicht einmal der grosse Dichter Siddhi Charan Shrestha hat in seinen berühmten Zeilen über Okhaldhunga an sie gedacht.
Text und Bilder von Samuel Schumacher