Wie viele Musicals passen in vier Tage New York? Drei funktionieren prima. Welche, entscheidet allerdings TKTS, an dessen Kiosk der Theatre Development Fund vergünstigte Tickets anbietet.
So viel vorab: Die Schlange ist lang. Der TKTS Ticket Shop am Times Square ist umringt von neugierigen Touristen, die wissen wollen, für welche Musicals und Theaterstücke es heute Discount-Tickets gibt. Während es sich die einen auf den Stühlen der gefühlsmässig nach wie vor neuen Fussgängerzone auf dem Times Square bequem machen und die Atmosphäre auf einem der berühmtesten Plätze der Welt geniessen, reihen sich andere in die Schlange ein.
Whoopi wer?
Zehn Stunden später ist die halbe Stunde Warterei vergessen. Genauso wie die Tatsache, dass sich ausserhalb des Broadway Theatre die Traumstadt New York City befindet. In Wahrheit schreibt man 1978 und das Leben findet in Philadelphia statt. Deloris Van Cartier spielt darin die Hauptrolle, sie bangt, sie lacht – und vor allem singt sie atemberaubend. Die 27-jährige Amerikanerin Patina Miller feierte mit ihrer Rolle als Deloris in Sister Act ihr Broadway-Debüt, gewann mit ihrer Performance gleich einen Theatre World Award und wurde unter anderem für den Tony Award als beste Schauspielerin in einem Musical nominiert. Bereits bei der Europa-Premiere des Musicals in London hatte sie 2009 viel Lob eingeheimst. Zu Recht. Denn schon nach dem ersten Song möchte man fragen: Wer war schon wieder Whoopi Goldberg?
Alan Menken trägt einen grossen Anteil an der kurzzeitigen Realitätsverschiebung, die sich an diesem Abend im Broadway Theatre vollzieht. Die Musik, die er für die Musical-Adaption des Filmhits Sister Act komponiert hat, nimmt mit und berührt. Die Umgebung tut ihr Übriges: Das Broadway Theatre ist eine von nur fünf Spielstätten, die tatsächlich an der Strasse namens Broadway stehen. 1924 eröffnet, hat es als Kino unter anderem 1939 die Premiere von Disneys Fantasia miterlebt, in den 1950er-Jahren tanzten Stars wie Sammy Davis Jr. über seine Bühne und 1979 feierte das britische Musical Evita hier seine Broadway-Premiere, das gerade im Marquis Theatre mit Ricky Martin in einer der Hauptrollen wieder aufgenommen wurde.
Ab in den Süden
Spätestens am nächsten Morgen hat einen die Realität wieder. Gestern war die Schlange doch kürzer, oder nicht? Egal. Ein Cinnamon Dolce Latte Low Fat in der Hand und die Sonne im Gesicht machen das Anstehen gleich viel leichter. Welche Tickets heute wohl on sale sind? Memphis? Nie gehört. Macht nichts, in New York muss man immer offen für Neues sein. Das Shubert Theatre, in dem Memphis gespielt wird, ist hingegen alles andere als neu. Es wurde vor fast hundert Jahren am 21. Oktober 1913 eröffnet und ist heute denkmalgeschützt. Seinen Namen erhielt es von Sam S. Shubert, dem mittleren Sohn der berühmten Theaterfamilie. Von 1975 bis 1990 schrieb hier A Chorus Line Broadway-Geschichte und auch die Shubert Organization, die älteste professionelle Theatergesellschaft der USA, hat heute noch ihren Sitz hier.
Die Fassade des Shubert Theatre hält sich an die Standards venezianischer Renaissance, doch sobald sich der Vorhang hebt, ist Rock’n’Roll angesagt. Und zwar aus den Südstaaten der 1950er-Jahre. Die Story: Der weisse Huey Calhoun liebt schwarze Musik und schafft es sogar, einen Job als DJ zu ergattern, um sein Publikum für seine Lieblingsmusik zu begeistern. Er verliebt sich in die schwarze Sängerin Felicia Farrell und bringt sie im Radio gross raus. Huey bekommt eine eigene TV-Show und beide sollen nach New York ziehen, wo sie laut Felicia auch ihre Liebe nicht länger verstecken müssen. Doch Huey will in Memphis bleiben und lässt Felicia ziehen. Diese verlobt sich in New York mit einem anderen Mann, wird zum nationalen Star und kehrt für einen letzten gemeinsamen Auftritt mit Huey nach Memphis zurück.
Die „New York Times“ gab dem Stück von David Bryan (Musik und Text) und Joe DiPietro (Buch und Text) nicht die allerbesten Noten. Doch die Hauptdarsteller Montego Glover als Felicia sowie Chad Kimball als Huey (inzwischen ersetzt durch Adam Pascal) ernteten Lob, und einen Tony Award für das beste Musical gab es 2010 ebenfalls.
Der Mittlere Westen ruft
Zurück aus dem Süden, sieht der Times Square am nächsten Morgen wieder genau gleich aus. Touristen soweit das Auge reicht. Vor allem vor der TKTS Discount Booth. Auf geht’s, ein letztes Mal. Wohin die Reise wohl heute geht? In den Mittleren Westen. Doch wer nach Chicago möchte, muss einen Umweg über das Ambassador Theatre in Kauf nehmen. 1921 eröffnet, wirkt es von aussen unscheinbar. Von innen verwirrt die Architektur zunächst: Das Interieur wurde diagonal zum Grundstück angelegt, um möglichst vielen Gästen Platz zu bieten.Seit 2003 ermöglicht das Ambassador Theatre eine Zeitreise ins Chicago der 1920er-Jahre. Dort ermordet die Vaudeville-Tänzerin Roxie Hart ihren Liebhaber und baut sich aus dem Gefängnis heraus eine neue Karriere auf. Chicago ist der Klassiker unter den US-Musicals und mittlerweile das am längsten gespielte amerikanische Musical der Broadway-Geschichte überhaupt. In der Originalinszenierung von 1975 führte Bob Fosse Regie, der bereits 1973 einen Oscar für die beste Regie für Cabaret mit Liza Minelli gewonnen hatte. Im gleichen Jahr bekam er auch einen Tony Award für die Musicals Pippin und Sweet Charity sowie einen Emmy für Liza with a «Z». Dieses Triple schaffte nach und vor ihm nie wieder ein Regisseur.
Fast 40 Jahre später hat Fosses Inszenierung nichts an Spannung eingebüsst, und die Musik von John Kander und Fred Ebb ist immer noch sexy, verrucht und vor allem verdammt cool. Und Bianca Marroquin als Roxie sowie Amra-Faye Wright als Velma Kelly singen, als ginge es tatsächlich um ein Leben in Freiheit. Das kann man vom Piano-Spieler und Sänger bei Da Marino hingegen nicht gerade behaupten. Der Klassiker unter den italienischen Restaurants in New York liegt genau gegenüber des Ambassador Theatre und ist ein Must für das After-Show-Dinner. Auch wenn es für einen Besuch dort leider keine Discount-Tickets bei TKTS gibt.
Von Angela Pietzsch