Orcas sind gegenüber Menschen besonders freundlich eingestellt. Im Norden von Norwegen ist es sogar möglich, mit den Walen zu schwimmen.
Sie sind die grössten Raubtiere der Erde. Bis neun Meter lang und bis zu sieben Tonnen schwer. Schwertwale. Auch Orcas genannt. Oder Killerwale – auf gut Deutsch «Mörderwale». Klingt gefährlicher als weisse Haie! Zu ihnen ins Wasser springen? Undenkbar. Wirklich? Nein! Doch davon später.
Tatsache ist: In freier Wildbahn gibt es keinen einzigen nachgewiesenen Fall, wo ein Orca einen Menschen getötet hätte. Richard O’Barry, der Mann, der in den 60er-Jahren die Delfine fing und dressierte, die für den TV-Welterfolg in die Rolle von «Flipper» schlüpften, der Mann, der dann ab 1970 Delfinarien vehement zu bekämpfen begann, beschreibt die Schwertwale als die sanfteren und den Menschen gegenüber noch freundlicher eingestellten Tiere als Delfine.
Nur in Gefangenschaft kommt es immer wieder zu tragischen Unfällen mit tödlichem Ausgang für Trainer. Das darf nicht verwundern. «Orcas sind mächtige Tiere», erklärt Expertin Sylvia Frey von Ocean-Care, der Schweizer Organisation zum Schutz der Meeressäuger. «Betrachtet man die im Vergleich zu ihrer Grösse geradezu winzigen Becken, in die sie gepfercht sind, dann fällt die Vorstellung nicht schwer, dass diese karge Enge die Tiere verhaltensgestört und aggressiv macht.»
Sehr hoch entwickelt
In freier Wildbahn sieht freilich alles ganz anders aus. Hier ziehen Schwertwale auf ihren Wanderungen und auf Nahrungssuche täglich Dutzende, manchmal auch weit über 100 Kilometer weit. Sie gehören zu den höchst entwickelten Tieren, mit einem komplexen Sozial- und Kommunikationsverhalten. Wissenschaftler ordnen ihnen eine Art eigene Sprache und je nach Meeresgebiet sogar Dialekte zu. Überraschend sind die unterschiedlichen, ausgefeilten Jagdtechniken, welche die Orcas je nach Region und Spezialisierung ausgetüftelt haben. «Genial mutet der Trick an, wenn sie in Formation Wellen erzeugen, um Robben von einer Eisscholle zu spülen», sagt Sylvia Frey von OceanCare. «Waghalsig sind jene Spezialisten, die sich absichtlich auf den Strand werfen, um an die begehrten Robben zu kommen.» Das Wissen um diese Methoden sei nicht angeboren: «Es wird von Generation zu Generation weitergegeben. Die Wissenschaft definiert solche Fertigkeiten als Kultur.»
Verbreitet sind diese auffällig schwarzweiss gefärbten, zur Familie der Delfine gehörenden Meeressäuger – das heisst im Meer lebenden, Luft atmenden Säugetiere – über den gesamten Erdball. Besonders häufig kann man die Schwertwale aber im Nordpazifik, Nordatlantik und den Polarmeeren beobachten. Wie der Name sagt, macht sie die markante, bei den Männchen schwertartige, bis zu 1,80 Meter aufragende Rückenflosse unverkennbar. In europäischen Gewässern lassen sich Orcas vor Norwegen besonders gut beobachten.
Verblüffendes Schauspiel
Hier haben sie sich vor allem auf den Fang von Heringen spezialisiert. In verschiedenen Gruppen folgen sie den saisonalen Wanderungen des Herings. Vom Frühherbst bis im Januar konzentriert sich das Vorkommen von Schwertwalen daher zeitgleich mit dem der Heringe vor Nord-Norwegen, von den Lofoten bis hoch nach Andøya. Zum Fang ihrer Beute haben sie auch hier eine verblüffende Technik entwickelt. Im Teamwork treiben die Wale die Heringe mit Hilfe ihrer hellen Bauchunterseite immer enger zusammen. Mit Schlägen der Schwanzflossen über und unter Wasser werden die zum kugelförmigen Schwarm zusammengedrängten Heringe danach betäubt und nach und nach verspeist. «Manchmal, mit etwas Glück, kann man sehen, wie die Heringe in einem letzten Versuch zu entkommen, aus dem Wasser springen», beschreibt der deutsche Hobbyfotograf Gunter Reichert seine Beobachtungen in Nord-Norwegen.
Einige Anbieter haben sich dort sogar darauf spezialisiert, ihren Gästen «Whale Watching» nicht nur auf dem Wasser, sondern auch im Element der Orcas anzubieten. Und das selbst im Januar, wenn die Sonne jenseits des Polarkreises gar nicht aufgeht. Es gibt sie also, jene Waghalsigen, die sich mit Tauchmaske und Schnorchel ins eisige Wasser stürzen, zu den grössten Raubtieren der Erde. Sie müssen sich nicht fürchten. Denn sie sind geschützt von Trockentauchanzügen, und die Wale sind den fremden Gästen in ihrem Element freundlich gesinnt. Für die anderen gibt es die sanfte, behutsame Walbeobachtung an Bord eines kleinen Schiffes, begleitet von erfahrenen Guides. Und belohnt werden die Reisen zu den Walen in Schwarzweiss in der düsteren Jahreszeit durch die berückenden Farben der Polardämmerung und magischen Nordlichter.
Von Hans Peter Roth, Bild Daniele Zanoni
Ich durfte diese intelligenten Tiere in Natur erleben. Einfach fantastisch, atemberaubend! Danke für diesen schönen Beitrag.