Nach mehr als 150 Jahren kehrt ein archaischer Wettstreit auf die Osterinsel zurück. Beim Tapati-Fest kämpfen die härtesten Athleten der Südsee um den Titel des Tangata Manu.
Tu’umahekes Puls bebt, doch das Gesicht des Kämpfers verrät keine Regung. In wenigen Minuten werden sich die Augen der Insel auf ihn richten, einen kleinen Punkt auf der Kuppe eines erloschenen, mit Steppengras überwucherten Vulkans. Alle werden sie aus der Ferne den Hopu Manu am Horizont fixieren. So nennen sie ihre Athleten. Der Mann im Lendenschurz ist ihr Idol.
Tu’umaheke blickt den Abhang hinunter. Der stürmische Nordostwind treibt in wogenden Schauern dunkle Wolkenschatten über das Grasland. Vom Kraterrand des Maunga Pu’i blickt man weit über die fast baumlose Osterinsel auf den Ozean.
Die zu Chile gehörende Insel ist der abgeschiedenste Flecken der Welt, auf dem Menschen leben. Das Eiland liegt mitten im Pazifik. Bis zum nächsten Stück Land, der Pitcairn-Insel im Westen, sind es 2200 Kilometer, bis zur Hauptstadt Santiago im Osten fast fünf Flugstunden.
Am Fuss des Maunga Pu’i hat sich eine Menge von mehreren Hundert Menschen versammelt. Sie warten auf die Hopu Manu. Sechs Inselbewohner wollen dieses Jahr den Titel davontragen und so der ungekrönte König der Osterinsel werden, der Tangata Manu. Zwei Wochen im Februar messen sich sechs Männer beim alljährlichen Tapati-Fest, bekleidet nur mit einem Lendenschurz. Tapati ist keine Touristenfalle, es ist ein Fest der Insulaner. Sie berufen sich auf den Vogelmann-Kult, die Gottheiten ihrer Ahnen, und feiern gemeinsam ihre jahrhundertealte Kultur. Nur einige wenige Touristen aus aller Welt sind extra dafür in den Pazifik gereist.
An diesem Nachmittag stürzen sich die Hopu Manu auf selbst gebauten Schlitten aus den glatten Stämmen von Bananenstauden den Hang des Maunga Pu’i hinab. Nicht selten kommt es dabei zu lebensgefährlichen Stürzen.
Der erste Athlet hat auf seinem Schlitten Platz genommen. Männer mit erdfarben bemalten Oberkörpern schieben das Bananengefährt an. Die Menge im Zieleinlauf und längs der Strecke jubelt, als der Hopu Manu pfeilschnell an Fahrt gewinnt, er prescht in einer abenteuerlichen Geschwindigkeit den Abhang hinunter. Wirbelt Staub und Steppengras in die Luft. Federt weit unten mit hocherhobenen Beinen über eine Bodenwelle und kommt Sekunden später zum Stehen.
Am Fuss des Berges wird es laut. Die Menge jubelt ihrem Helden zu, klatscht Beifall. Schon steht oben der nächste Fahrer bereit – von der Stirn bis zur Ferse mit weissen Mustern bemalt. An seinem Kopf steckt eine lange Feder.
Sanft gleitet er die ersten Meter des Berges hinab. Es scheint, als duckten sich Schlitten und Fahrer auf Grashöhe, als fügten sie sich harmonisch in die Landschaft ein. Doch diese Fahrt nimmt kein schönes Ende. Auf halber Strecke hoppelt der Schlitten über eine kleine Erhebung und wird wie von einer Sprungschanze in die Luft katapultiert. Zwei weitere Hügel folgen, jedes Mal hebt das Gefährt für einige Augenblicke ab. Die spektakuläre Flugeinlage wird vom Publikum johlend gefeiert. Der Hopu Manu aber verliert nun endgültig die Kontrolle, er wird von seinem Schlitten geschleudert, überschlägt sich mehrfach und bleibt dann reglos im Gras liegen. Einen Moment lang rauscht nur der Wind in den Ohren. Ein Reiter zieht den führerlos unten angekommenen Schlitten an der Menge vorbei. Dann fährt ein Krankenwagen vor. Eine Gruppe junger Männer trägt den Gestürzten auf einer Trage davon.
Noch ein paar Minuten herrscht Stille, dann blickt die Menge wieder hinauf zum Hang. The Show must go on. Oben hat bereits der Nächste seinen Schlitten in Fahrposition gebracht. Währenddessen steht der Gestürzte im Ziel von der Trage auf und wird frenetisch gefeiert. Am Ende des Tages verbreitet sich das Gerücht, er habe sich nur das Handgelenk gebrochen. Wer den Sturz gesehen hat, kann das kaum glauben.
Als Tu’umaheke an der Reihe ist, brandet wieder Jubel auf. Der Liebling vieler Insulaner wählt die richtige Spurrille und kommt wohlbehalten an.
«Ich habe sonst nie Angst, aber das hier ist etwas anderes», erzählt Tu’umaheke atemlos im Zieleinlauf. Der 37-Jäh rige arbeitet als Ranger im Nationalpark Rapa Nui, wo jedes Jahr zehntausende Touristen die Moai-Statuen bewundern, die in Stein gehauenen Symbole der Osterinsel. 14 Mal hat er den traditionellen Inseltriathlon zu Beginn des Tapati-Festes gewonnen: Wettlauf im Vulkankrater mit zentnerschweren Bananenstauden auf den Schultern, Wettschwimmen, schliesslich ein Kanurennen auf dem Ozean. Doch es ist sein erstes Haka Pae – so nennen die Inselbewohner die Fahrt mit den Bananenschlitten.
In diesem Jahr kehrt das Fest zu seinen Wurzeln zurück. Bis 2012 sammelten die Kontrahenten Punkte, um anschliessend eine Dame ihrer Wahl zur Inselkönigin zu küren. Nun streiten erstmals seit mehr als 150 Jahren wieder sechs Männer um den Titel des Tangata Manu, und damit um die Ehre ihrer Clans.
Einst lieferten sich junge Krieger einen Wettstreit um das erste Ei der Russseeschwalbe, welches sie von den steilen Klippen einer vorgelagerten Insel unbeschadet an Land bringen mussten. Ihr Lohn für den gefährlichen Parcours durch den für Brandung und Haie gefürchteten Küstenabschnitt war eine Jungfrau, die monatelang abgeschnitten von der Sonne in einer Höhle auf die Heirat mit dem Eierdieb wartete.
Kevin Costner setzte diesem Kampf auf Leben und Tod in seinem Film «Rapa Nui» ein Denkmal. Die Pazifik-Bewohner sind stolz auf den Hollywoodstreifen, er läuft mehrfach wöchentlich im Inselkino. Auch wenn Costner den Niedergang der Insel arg strafft und mehrere Jahrhunderte in wenige Jahre zusammenlegt: Ihre Traditionen finden die Rapa Nui darin wieder. Angesichts der Globalisierung, die seit einigen Jahren auch die einstmals verschlafene Pazifik-Perle erreicht hat, wird deren Pflege umso wichtiger. «Das Tapati-Fest trägt viel zum Erhalt der Inselkultur bei», sagt Tu’umaheke. «Da sind wir alle gefragt.»
Tatsächlich messen sich nicht nur die sechs starken Männer, fast alle 5000 Inselbewohner sind beim Festival auf den Beinen. Der grösste Kürbis und die dickste Ananas werden prämiert, Inselschönheiten buhlen mit ihren selbst geflochtenen Blumenkränzen um die Gunst einer Jury, Rapper treten bei Mondschein und mit Ukulelensound gegeneinander an. Tagsüber kämpfen die Hopu Manu beim Bambusfloss-Surfen im Lendenschurz, abends präsentieren die Damen der Insel auf der Strandbühne im Hauptort Hanga Roa laszive Tänze im Federkostüm und Party für alle.
Auch jenseits des Festivalmonats gibt es gute Gründe, den weiten Weg in den Pazifik auf sich zu nehmen: Vulkane mit Panoramen, die auf kein Weitwinkelobjektiv passen, Wanderwege vorbei an wilden Pferden, die auf dem quasi zaunlosen Eiland grasen, 164 Moai-Steinköpfe im vermutlich grössten Freilichtmuseum der Welt. Dazu sind Sonnenschein und kühlender Wind garantiert. Kein Wunder, dass jedes Jahr mehr Touristen auf die Insel kommen. Das ist Fluch und Segen zugleich, doch Muskelmann Tu’umaheke ist sich sicher, dass die Insel ihre Traditionen bewahren wird: «Es ist mir wichtig, unseren Jugendlichen die Kultur zu vermitteln. Dann glaube ich nicht, dass sich das verliert.» Der Vater von drei Kindern tritt selbst als Botschafter seiner Heimat auf: Er reiste als Repräsentant der Insel nach Tahiti, Brasilien, Argentinien, Kali fornien und Neuseeland. Wirklich lange fortbleiben kann er aber nicht: «Ich liebe das Leben hier. Wenn ich nur eine Woche weg bin, habe ich schon Heimweh. Dann ruft mich die Insel wieder.»
Von Winfried Schumacher und Alexander Nortrup