Mit der Eröffnung der Pensiun Aldier und dem Alberto Giacometti Museum hat der Kunstsammler Carlos Gross im Unterengadin ein Bijou geschaffen, das seinesgleichen sucht.
Knapp ein Jahr nach der Eröffnung strahlt der Ruf der Pensiun Aldier schon weit über das Unterengadin hinaus. Sent liegt auf einer Sonnenterrasse auf 1440 Metern, das Klima ist erstaunlich mild. Enge Gässchen, Kopfsteinpflaster und alte Engadiner Häuser prägen das Dorfbild genauso wie italienische Palazzi oder die barocken «Senter Dorfgiebel». Der Hotelier und Kunstsammler Carlos Gross und seine Frau Suzanne haben das ehemalige Hotel Rezia am Dorfplatz mit einer klaren Vision gekauft: «Wir suchten einen schönen Ort, wo wir unsere Leidenschaft für Kunst, Hotellerie und Gastronomie verbinden können.» Davor lebte das weit gereiste Paar 25 Jahre lang im Piemont. In dieser Zeit erwarb Gross rund um den Globus Lithografien und Radierungen von Alberto Giacometti: «Ich war schon als Gymnasiast fasziniert von seiner dunklen Palette.» Jetzt hat er dem Bergeller Künstler im Kellergewölbe des Aldier ein Museum gewidmet. Die etwa hundert Exponate aus seiner Sammlung zeigen eine einmalige Werkschau, wahrscheinlich weltweit einzigartig in ihrer Komplexität. Im ganzen Haus teilt der Hotelier seine Kunstsammlung grosszügig mit den Gästen. In der Lobby sind es Kleinskulpturen von Diego Giacometti, im Restaurant isst man mit Alberto und in der gemütlichen Stüva hängen Schwarz-Weiss-Porträts von Künstlern wie Dalí, Chagall, Varlin. Diese stammen vom heute 90-jährigen Fotografen und Verleger Ernst Scheidegger, der mit den Giacomettis eng befreundet war. In den oberen Etagen, die den Hotelgästen vorbehalten sind, hängen Scheideggers eindrückliche Fotografien aus Albertos Pariser Atelier.
Die 16 individuell gestalteten Zimmer sind ein weiteres Highlight. Auch hier zeugen edles Material und schlichte Eleganz von der umsichtigen Renovation des Senter Architekten Duri Vital, der das 1865 erbaute Haus «vom Gerümpel der letzten fünfzig Jahre befreite», wie er sagt. Man ist umgeben von warmem Holz, feine Wollvorhänge setzen farbliche Akzente. Originalgrafiken, etwa von Corbusier, Miró oder Chillida, zieren die Wände. Vielleicht ist es diese radikale Reduktion auf das Essenzielle, die dem Aldier diese eigene Magie und Sinnlichkeit verleiht. Lange blieb denn dieses Bijou nicht unbemerkt. Im letzten Hotelrating der Bilanz wurde das Aldier als «interessantester Neuzugang in der Kategorie Boutique- und Dreisternehotels» gewürdigt. Zu Recht, finden wir. Einen massgeblichen Beitrag dazu leistet auch das Personal, das mit natürlicher Herzlichkeit und viel Humor für das Wohlbefinden der Gäste sorgt.
Die Küche überzeugt mit frischen, regionalen Gerichten, ergänzt mit einem Hauch Italianità. Regelmässig tüftelt Gross mit dem Küchenchef an Rezepten, liest «Kochbücher wie Krimis». Probiert aus, verwirft, stellt um und erst wenn er überzeugt ist, kommt das neue Gericht auf den Tisch. Kreativ, doch ohne Extravaganzen, mit anständigen Preisen. Das schätzt das kunstaffine Ehepaar vom Bodensee genauso wie der einheimische Stammgast, der gar behauptet: «Das beste Restaurant in der Umgebung. Nur meine Frau kocht besser!»
An unserem letzten Abend gibt es zum Auftakt der Jagdsaison eine der legendären Tavolate im Aldier. Nachmittags brutzelt ein Wildsäuli auf dem Grill im Garten, der Dorfmetzger Zanetti hat das Zepter übernommen. Derweil werden im Restaurant alle Tische zur grossen Tafel zusammengeschoben. Punkt sieben Uhr strömen die Gäste ins Lokal. Vom Senter Handwerker bis zum urbanen Unterländer sitzen alle am selben Tisch. Erst weit nach Mitternacht verabschieden sich die letzten Gäste, bedanken sich beim Gastgeber für den unvergesslichen Abend. Wir gehen in unser Corbusier-Zimmer, blütenweisse Bettwäsche und würziger Holzduft umhüllt uns. Alles ist ruhig, nur der Brunnen am Dorfplatz plätschert.
Text Monica Mutti, Bilder Pensiun Aldier