Für eine Safari muss niemand nach Afrika reisen. Auch in der Schweiz gibt es Wildtiere zu beobachten. Und die lohnt es sich kennen zulernen, wie eine Tour mit Wildhütern auf dem Pilatus zeigt.
Er ist gross, stark und mächtig. Mindestens sechzehn Jahre alt, zählt man die Ringe an seinem eindrücklichen Gehörn, das über einen Meter in die Luft ragt. Und er ist wohl der meistfotografierte Steinbock auf dem Pilatus, denn der kapitale Bock steht ausgestopft in der Ankunftshalle auf Luzerns Hausberg. Hier beginnt die Steinbock-Safari der Pilatus Bahnen – mit einem Glas Weisswein und Käse. Die Gäste werden auf der Safari die Flora und Fauna auf einem der bekanntesten Berge der Schweiz kennenlernen. Jetzt stehen die Teilnehmer noch staunend um das Tier herum, treten näher und berühren sein Fell. Sie sind mittlerweile die Einzigen in der sonst sehr geschäftigen Panoramagalerie. Die Tagesgäste haben den Berg mit der letzten Gondel ins Tal bereits verlassen.
«Er war keineswegs so kräftig, als ich ihn geschossen habe», erzählt Werner Bissig, ehemaliger Wildhüter, passionierter Jäger und leidenschaftlicher Safariguide, über den ausgestellten Bock. «Er war alt, kränklich und völlig abgemagert.» Um als Modell in der Ankunftshalle eine Falle zu machen, wurden dem Tier ein paar Rundungen angestopft.
Rund 120 Steinböcke und Geissen leben auf dem Pilatus. Ihr Bestand wird von den Wildhütern aufs Genauste überwacht. Ist ein Tier alt oder krank, wird es zum Schutz der anderen erlegt. Nur durch eine solche Bestandeskontrolle sei es möglich, dass sich eine Kolonie so gut entwickle wie die auf dem Pilatus, sagt Bissig.
Dass die Wildhüter überhaupt Arbeit haben auf dem Pilatus, ist nicht selbstverständlich. 1809 wurde in der Schweiz der letzte Steinbock geschossen. «Bei einer Nacht- und Nebelaktion ist es ein paar Schweizern aber Anfang des 20. Jahrhunderts gelungen, drei Kitze aus einem Park in Italien in die Schweiz mitgehen zu lassen», erzählt Bissig. 1961 wurde Steinwild auf dem Pilatus angesiedelt. Daraus ist eine grosse Gruppe mit einer bewegten Geschichte entstanden, wie es sich eben für Grossfamilien gehört. Einmal haben den Steingeissen die Bündner Böcke nicht gefallen, die zwecks Gendurchmischung eingeführt wurden, ein andermal hat die schlimme «Moderhinke» den Bestand bedroht. Alles in allem aber ist eine gesunde, schöne Kolonie herangewachsen, die sich zur Freude von Beobachtern ziemlich an Menschen gewöhnt hat und darum auch weniger scheu ist als Artgenossen in anderen Regionen der Schweiz.
Aus Distanz nahe dran
Und trotzdem: Bock bleibt Bock – stur und eigensinnig. Und so ist es auch bei weniger schüchternen Tieren nicht selbstverständlich, dass sie sich sehen lassen. Auf der ersten Pirsch vor dem Nachtessen lassen zwar das Abendlicht und die gewaltige Aussicht auf Vierwaldstättersee und Mittelland zur einen Seite und die Berner Alpen zur anderen Seite das Herz höher schlagen, von Tieren aber keine Spur. Weder die etwas kleineren Steingeissen noch ein kapitaler Bock wollen vor die Linse der Feldstecher tänzeln. Werner Bissig und sein Kollege Hans Spichtig beraten sich. Vielleicht sind die Tiere in tieferen Lagen, weil es dort gutes Gras gibt? Vielleicht schlafen sie schon, sagt ein Kind. Just in dem Moment, in dem die Gruppe zum Nachtessen ins Hotel aufbrechen will, sieht Spichtig als Einziger, dass sich in der Ferne etwas bewegt. Schnell hat er die Tiere im Visier seines Fernrohres und jeder kann beobachten, wie mehrere Steingeissen und ein junger Steinbock die Abendsonne geniessen. Die Tiere sind völlig entspannt, einige spielen, andere grasen. Auch wenn die Distanz gross ist und man sich erst an das Hantieren mit dem Feldstecher gewöhnen muss, hat es einen Vorteil, weit weg zu sein: Die Tiere fühlen sich unbeobachtet und verhalten sich völlig natürlich. Es gibt aber auch Tage, an denen die Safari-Teilnehmer fast über das Steinwild stolpern.
Murmelwächter und bärtige Geier
Die eigentliche Safari beginnt am zweiten Tag um sieben Uhr morgens. Während einige Teilnehmer noch etwas müde wirken vom tiefen Schlaf auf über 2000 Metern über Meer, joggen bereits die ersten Bergläufer durch die Felsen hoch. Die erste tierische Begegnung: mehrere Salamander, die auf dem Steinweg liegen und sich an den Sonnenstrahlen wärmen. Ohne Wildhüter hätte die Gruppe die Mini-Attraktion wohl verpasst. Und obwohl sich alle auf grosse Tiere freuen, lösen auch die kleinen Begeisterung aus.
Klein, aber sehr witzig sind auch die Murmeltiere, die an einem steilen Hang den Tag begrüssen. Während ein Paar sich im lautstarken Streit mehrmals überschlägt und herumtollt, blickt der Wachmann der Familie konzentriert ins Tal. Gefahr droht vor allem von oben. Der Adler holt sich gerne ein kleines Murmeltier zum Frühstück. Und wenn auf dem Pilatus bald auch noch ein Bartgeier-Paar ausgesetzt wird, hat der kleine Wächter erst recht zu tun. Obwohl Geier eigentlich Aasfresser sind. Sieht der Wächter etwas, reicht ein schriller Pfiff, und alle Familienmitglieder verschwinden innerhalb von Sekunden in Erdlöchern.
Auch die Steinböcke sind an diesem schönen Morgen unterwegs. Mit ihren speziellen Hufen genügen ihnen ein Zentimeter schmale Ritzen, um senkrechte Felswände zu überqueren. «Sie sind wahre Kletter- und Überlebenskünstler», sagt Werner Bissig begeistert. Das Wissen der Wildhüter macht den Spaziergang zu einem lehrreichen Ausflug. Die Steinböcke und Geissen zu beobachten, macht Freude und fasziniert. Eindrücklich sind auch die Gämsen. Eine ganze Schule, rund 50 Tiere, kraxeln am Berg, darunter mehrere Kleine, die viele «Jöhs» bei den Beobachtern hervorzaubern.
Im Laufe des Morgens nehmen die Teilnehmer die steilen Hänge und die kargen Felswände des Pilatus immer weniger nur als mystisch und schön wahr, sondern als Lebensraum für viele Tiere.
von Stefanie Schnelli
Ich halte nichts von der Tierhaltung in Zoos, denn es ist immer wieder schön sie in ihrer freien Wildbahn zu sehen. Und selbst wenn man sie aus der Distanz beobachten muss, ist es ein unglaubliches Gefühl, weil man ihnen doch sehr nahe sein kann.