Prag, meine Unsterbliche – Prag ist eine janusköpfige Schönheit ohne Allüren, ein Augenpaar zurückgewandt, eines in die Zukunft gerichtet. Die Kaffeehäuser spiegeln diese reizvolle Spannung. Ein Liebesbrief an meine Stadt.
Gestern ist mir etwas widerfahren, das ich Dir erzählen muss: Ich sass im Kaffee «Slavia» und labte mich wieder einmal an Deiner Schönheit – die gotische Veits-Kathedrale, die wie eine Krone über der imposanten Burg schwebt – es sei der grösste Komplex seiner Art in Europa, habe ich jüngst gelesen. Darum herum wellt sich Dein ziegelrotes Lockenmeer aus mittelalterlichen Dächern der Kleinseite, durchbrochen wie von Juwelen durch die barocken Gartenanlagen und pausbäckigen kupfergrünen Kirchturmkuppeln. Deinen edlen Hals schmückt in kühnem Bogen das smaragdgrüne Band der summenden Moldau. Acht Brücken, darunter das Prachtstück der über 600-jährigen Karlsbrücke, verbinden wie pulsierende Adern Dein altehrwürdiges, ruhig schlagendes Herz mit den weitläufigen Boulevards der noblen Altstadt. Jedem Platz und jedem Palast hast Du dort eine andere Robe geschneidert, je nach der Mode der Zeit: Barock, Renaissance, Neoklassik, Jugendstil oder gar Kubismus. Du besitzt den grössten von der Unesco geschützten Stadtkern der Welt – wusstest Du das? Gilt die Moldau als Musik gewordenes Wasser, scheinst Du selbst steingewordene Musik.
Ah ja, Musik – das war das Stichwort, verzeih, und zwar der Barpianist im «Slavia». Er hat mich also angelächelt, als ich an ihm vorbeiging zu der Fotografie Vaclav Havels, auf welcher er bekennt, dass er in den anregenden Diskussionen hier in seinem Stammlokal geistig, moralisch, politisch und literarisch geformt worden sei. Auf dem Rückweg zu meinem Tisch zog mich etwas zu dem kleinen Mann hinter dem Piano, und es entstand, wie als Beweis dessen, was unser geliebter früherer Präsident geschrieben hat, ein äusserst interessantes Gespräch: Der Feingeist – ein ehemaliger Physiker und begnadeter Geschichtenerzähler – erklärte mir, wie Kaffeehausmusik beschaffen sein muss, damit sie die Herzen der Gäste in Schwingung versetzt, einem gestressten Geschäftsmann den Puls drosselt, das Schritttempo einer einsamen Dame auffängt und ihr ein Lächeln entlockt oder einem schüchternen Pärchen mit feinen, später romantischen Weisen den Weg zur Liebe öffnet.
Alles sei bloss eine Frage der richtigen Frequenz: Musik in As-Dur pulsiere zum Beispiel wie die Ionosphäre rund um den Erdball, was auf Menschen beruhigend und heilend wirke. Für einen Energieschub hingegen bedürfe es über 432 Hertz, das sei wissenschaftlich bewiesen. Ein Kaffeehauspianist dürfe deshalb nie nach Noten spielen, sondern müsse die Gäste genau beobachten, sie mit dem Blick am Eingang abholen, musikalisch an der Hand nehmen und ihre Herzen mit dem Genius loci synchronisieren. Auch mich hat er wahrscheinlich mit seiner unsichtbaren Hand für dieses Schwätzchen zu sich ans Piano gelockt. Unglaublich, oder?
Das nenne ich hohe Kaffeehauskunst, doch die entsteht nicht von heute auf morgen, also habe ich recherchiert und in Deiner jüngeren Geschichte gegraben. Bitte korrigiere mich, wenn ich irre: Angefangen habe das Kaffeetrinken um das Jahr 1711 bei der Karlsbrücke. Dort habe ein Armenier namens Deodatus Damajan Damascenus im Brückenturm auf der Kleinseite eine erste Kaffeestube eröffnet. Davor habe er das türkische Gebräu als fliegender Händler direkt auf der Strasse verkauft. Sein Geschäft florierte und fand Nachahmer. Gut hundert Jahre später seien es bereits 120 Lokale gewesen. Dein Körper wuchs in konzentrischen Kreisen, und in jedem neuen Wachstumsring entstanden auch schönere und grössere Kaffeehäuser, wo sich die Intelligenzia, die Aristokratie und die grosse Politik zu treffen begannen.
Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts habe die Kaffeehauskultur dank dem aufblühenden Bürgertum und der lebendigen Künstlerszene ihren Höhepunkt erreicht: Die eleganten Cafés mit mondänen Namen wie Louvre, Savoy, Orient und Imperial wurden zu Zentren des gesellschaftlichen Lebens, wo nach der Gründung der Tschechoslowakei 1918 auch der nationalen Identität gefrönt wurde. Diskussionszirkel entstanden, und es wurde fleissig Zeitung gelesen. In den besten Häusern lagen zeitweise über 200 Presseerzeugnisse auf. Viele Briefe, manch ein Filmskript und ganze Theaterstücke entstanden in der inspirierenden Atmosphäre dieser geistigen Kreuzungspunkte. Später kamen Livemusik, Tanzparketts und Billardtische dazu.
Mit dem Anbruch der kommunistischen Eiszeit 1948 fanden die dekadenten Frivolitäten des Lebens ein jähes Ende. Die «elitären» Stilmöbel und Lüster flogen auf die Strasse, die kunstvoll geschmückten Decken und Wände wurden mit Tüchern verhängt und mit Brettern verschalt, damit dem Proletariat deren Anblick erspart blieb. Zeit für parasitären Müssiggang war im Arbeiterstaat sowieso keine.
Fast eine Generation hat es dann gedauert, bis Du den Staub des Kommunismus aus Deinem Pelz geschüttelt hast. Doch nun bist Du wieder zuvorderst dabei; die im europäischen Vergleich höchsten Grundstückspreise sind nur ein Indiz für Deine Attraktivität. Die Lebensqualität, das kulturelle Angebot und die Geschäftsmöglichkeiten suchen ihresgleichen – von Deiner umwerfenden Schönheit ganz zu schweigen. Heute erstrahlen Deine exquisiten Häuser von damals wieder in altem Glanz. Das Raffinement kam zurück und mit ihm die grossen Namen. Waren es ehedem Einstein, Max Brod und Kafka, nahmen nach der samtenen Revolution 1989 Havel und seine Entourage von Künstlern, Philosophen und Politikern die Kaffeehaustradition wieder auf. Der derzeitige, unter progressiven Grossstädtern unbeliebte populistische Präsident Milos Zeman schimpft seine Opponenten Prager Kaffeehäusler. Ist das nicht äusserst bezeichnend für sie und ihn – was denkst Du?
Bei meinen Rundgängen bin ich dann noch auf ein ganz neues Phänomen gestossen: die neuesten Prager Kaffee-Locations. Unkonventionell und unkompliziert, spriessen sie ungehemmt aus den Ritzen Deiner geschichtsdurchtränkten Kopfsteinpflaster, aus heruntergekommenen Hinterhöfen und alten Fabrikhallen. Eine junge Viererclique hat es sich zur Aufgabe gemacht, ungenutzten oder dem Abbruch geweihten Objekten in Zentrumsnähe neues Leben einzuhauchen, die reizvollen alten Strukturen zu erhalten und damit Neubauten zu verhindern. Chapeau!
So ist im ehemaligen Arbeiterviertel Smichov aus einer alten Schreinerwerkstatt das hippe «Kavarna co hleda jmeno» (Das Kaffeehaus, das einen Namen sucht) geworden, in stylischem Backstein-Look mit grossen Arbeitsfenstern auf einen romantischen Hof hinaus. Im Hafenviertel Holesovice in der Moldauschleife haben die vier Freunde eine vereinsamte Grossgarage aufgestöbert und mit viel Enthusiasmus und Fronarbeit in ein industriell angehauchtes luftiges Loft-Lokal verwandelt. Viele Junge treffen sich im «Vnitroblock» an den grossen Holztischen zum Co-working, einige kommen, um die neuste Sneaker-Collection im In-Shop zu begutachten, und andere nehmen die Eisentreppe ins Obergeschoss zum Tanz- und Yogasaal. Wer weiss, vielleicht entstehen in der jungen, frechen und inspirierenden Atmosphäre wieder so einige Briefe, manch ein Filmskript oder gar ganze Theaterstücke. Diesen Brief schreibe ich Dir aus dem «Letka», meinem derzeitigen Liebling, einem kleinen Vintage-Bijou neben einem Kleintheater. Hier müssen wir unbedingt mal zusammen hin.
In Liebe, Deine Tochter