Wer dem atlantischen Lachs von der Nordseeküste in die Highlands folgt, durchquert eine der interessantesten Kulturlandschaften Grossbritanniens und lernt so manches über Schottlands wilde Natur.
Am Horizont, weit im Norden, hat Malcolm Milne ein Segelschiff erkannt, so klein, dass man es selbst mit dem Fernglas kaum sehen kann. Eigentlich beginnt unsere Reise irgendwo da draussen, jenseits von dort, wo sich Himmel und Meer berühren. Wir sind unterwegs im Nordosten Schottlands. Unsere Route ist fast so alt wie die Berge und Täler selbst. Denn unser wahrer Reiseführer ist ein Fisch mit dem schönen wissenschaftlichen Namen salmo salar.
«Ein grosser Teil ihres Lebens spielt sich im Atlantik ab», erzählt der Reiseführer. «Irgendwoher aber wissen sie, ihre Heimat sind die Highlands.» Wenn Malcolm Milne von den schottischen Lachsen spricht, schwingt in seiner Stimme Stolz mit. Was treibt einen Fisch, der einen Grossteilseines Lebens in den Weiten des Ozeans verbringt, in ein Rinnsal zwischen dunklen Berghängen? «Es kann nur Heimweh nach den Highlands sein. Ein wahrer Schotte eben.»
Milne liegt im hohen Gras auf den Klippen, das kleine Fernglas gefährlich weit über den Abgrund gereckt. Höhenangst kennt der Mann nicht. Die Steilküsten von Aberdeenshire kennt er so gut wie die Falten seines Schottenrocks. Er späht nach Papageientauchern.
Neben all den plumpen Trottellummen und blassen Klippenmöwen wirkt der Papageientaucher wie eine Sambatänzerin unter Finanzbeamten. Mit ihren scharlach-gelb-violett geschminkten Schnäbeln und den erdbeerroten Entenfüssen bringen die Vögel einen Hauch Exotik auf die rauen Felsen von Fowlsheugh. Sie bewohnen die obersten Stockwerke einer der grössten Seevogelkolonien Grossbritanniens. Mehr als 70 Meter ragt die steinerne Wand aus der Nordsee auf. Zehntausende Brutpaare finden sich alle Jahre wieder ein und verbringen den Sommer hier. Sie verwandeln die nackten Klippen in eine wild bewegte Vogelstadt.
Lange hält es den Papageientaucher nicht in seiner Residenz auf den Klippen. Schon bald nachdem der Nachwuchs flügge ist, packt den reisefreudigen Seevogel wieder die Sehnsucht nach den Weiten des Atlantiks. Erst im Frühjahr kehrt er nach Schottland zurück.
Wie der Papageientaucher legt auch der Atlantische Lachs Tausende Kilometer auf seinen Fernreisen zurück, bevor es ihn urplötzlich an den Ort seiner Kindheit zurückzieht, einen Bergbach in den Highlands. Niemand kann genau sagen, wie der Lachs unter Hunderten von Flüssen und Bächen, die Richtung Nordsee fliessen, genau denjenigen wiederfindet, wo er einst geboren wurde. Hierher kehrt er zum Laichen zurück.
Beschwerlicher Weg durchs Burgenland
Der Nordosten Schottlands ist berühmt für seine Lachswanderungen. Schon zu Römerzeiten folgten Kaufleute und Abenteuerlustige der Delikatesse auf ihrem Weg ins Hoch land. Lange hing der Reichtum Aberdeenshires am Handel mit dem leckeren Fisch, den man an der Küste räucherte oder in Salz einlegte, bevor ihn Handelsflotten für die Adelshäuser Europas nach London und Rotterdam schifften.
Viele Schottlandreisende lassen den Osten auf ihrem Weg von Edinburgh über Loch Ness zur Insel Skye und den Hebriden unbeachtet. Ihnen entgeht eine der reizvollsten Küstenabschnitte Grossbritanniens. Die Kulturgeschichte von Aberdeenshire ist aufs Engste mit der rauen Natur verbunden. Nirgendwo im Vereinigten Königreich gibt es mehr Burgen, Schlösser, Herrenhäuser und Ruinen pro Hektar. Diese besondere Dichte an historischen Gemäuern hat der Region den Namen «Schottisches Burgenland» eingebracht. Viele der Castles liegen in verwunschenen Wäldern oder in schwindelerregender Höhe auf senkrechten Meeresklippen.
Am Fuss der Klippen von Dunnottar Castle, unweit des Küstenstädtchens Stonehaven, planschen zwei Seehunde im morgendlichen Sonnenschein. Immer wieder tauchen ihre runden Gesichter mit den grossen schwarzen Augen an der Wasseroberfläche auf. Die Tiere scheinen den Klippenwanderern auf ihrem Weg zu den Ruinen zuzulächeln. Dunnottar Castle thront hochherrschaftlich auf schroffen Klippen und ist noch als Ruine äusserst eindrucksvoll. Einst bewahrte man hier die schottischen Kronjuwelen auf, weil man die Burg für uneinnehmbar hielt.
Den Lachsen mag dies – genauso wie die Schönheit der Landschaft – auf ihrem beschwerlichen Weg egal sein. Vielleicht dürfte es sie trösten, dass die ehemaligen Fischerdörfchen Pennan, Crovie und Gardenstown nicht mehr allein vom Fischfang leben. In winzigen Buchten zwischen steilen Felshängen gelegen, ziehen sie heute Tagesausflügler und Romantiker an.
So manchen heimwehgeplagten Lachs schnappt sich ein Seeadler, bevor er die Mündung seines Heimatflusses überhaupt erst erreicht hat. All jene, die den seltenen Raubvögeln an der Küste entkommen, müssen auf dem Weg zu ihrem Geburtsort noch Hunderte von Stromschnellen meistern. An den Wasserfällen von Glencalvie am Oberlauf des River Carron kann man sie dabei beobachten, wie sie mit todesmutigen Sprüngen mehrere Kaskaden überwinden. Mit ungeheurer Wucht springen die Tiere gegen die stürzenden Wassermassen an, schlagen doppelte Saltos über der tosenden Gischt. Manchmal landen sie dabei am Ufer, ihre kraftvollen Körper klatschen auf den schwarzen Fels. Wieder und wieder versuchen sie es. Niemals würden sie aufgeben. Denn nie war die Heimat so nah. Unerbittlich kämpft der Fisch gegen das schier übermächtige Wasser. Es ist ein wildes Drama der Natur, das jeden Beobachter ins Staunen versetzt.
Glückliche Rückkehr ins Hochland
Für Alex Murray sind die Lachse wie alte Freunde. Im Frühling kehren die ersten Fische in den Upper Carron zurück, die letzten im September. Jetzt im Sommer sitzt der Ranger abends gerne an den Wasserfällen und sieht ihnen stundenlang zu, wie sie mit der Kraft des Wassers ringen.
«Sie sind unglaublich intelligent», sagt der 25-jährige Ranger des Wildreservats. Seit zwei Jahren arbeitet er bereits in Alladale. «Sie wissen genau, wie sie die Strömung einschätzen müssen und wann sich das Risiko zum Sprung lohnt.»
Haben die Fische einmal das Wildreservat erreicht, droht ihnen keine Gefahr mehr – zumindest nicht vom Menschen. In den Gebirgsbächen von Alladale können sie ungestört laichen. «Wir fischen hier oben keine Lachse», sagt Murray, «schon deswegen nicht, weil sie hier ganz entkräftet ankommen. Wer es hierher geschafft hat, hat sich seine Freiheit verdient.»
Alladale ist eine merkwürdige Heimat für einen Fisch, der einen Grossteil seines Lebens auf dem offenen Ozean verbracht hat. Die dunklen Schatten von federweissen Wolken fliegen über das enge Tal, wandern die steilen Berghänge hinunter, wo sich die silberne Schlangenlinie eines Gebirgsflüsschens ihrer Mündung in den River Carron entgegenwindet. Vor sieben Jahren beschloss der englische Multimillionär Paul Lister, das Jagdrevier Alladale zum Wildreservat umzugestalten. Er liess Tausende einheimische Baumarten pflanzen und träumt gar davon, dass hier in den entlegensten Gebirgszügen der Highlands einmal wieder Wisente, Wölfe und Bären durch die Kiefernwälder streifen.
Alex Murray hat sich bereits seine dritte Zigarette gedreht und schaut noch immer den springenden Fischen nach. Neben ihm ist sein schwarz-weiss gefleckter Jagdhund eingedöst. «Ich könnte Stunden hier sitzen und einfach nur zusehen, wie sie mit dem Wasser kämpfen», sagt er.
Wenn die Lachse die letzten Stromschnellen überwinden, sind sie am Ziel. Viele von ihnen werden nie wieder den Ozean sehen. Nach dem Laichvorgang sterben sie genau an dem Ort, wo sie einst als Larve das Licht der Welt erblickten.
Der Ranger lässt seinen Blick von dem Wasserfall hinauf zu den Berghängen schweifen, wo sich dunkle Regenwolken sammeln. «Hier oben ist auch meine Heimat», sagt er. «Ich habe Freunde, die nach London gegangen sind und jetzt viel Geld verdienen. Glücklich sind sie aber nicht.» Nach vielen Jahren, in denen er in verschiedenen Ländern Afrikas und Europas gelebt hat, ist er selbst sicher, dass er hier im schottischen Hochland bleiben möchte. «Ich brauche zum Glücklichsein nicht mehr als dieses Bergland.»
von Winfried Schumacher