Eine Reise mit der Sea Cloud, der berühmtesten Segeljacht der Welt, verspricht vor allem eins: ein Segelerlebnis wie zu vergangenen Zeiten. Ohne Hokuspokus, aber mit viel Historie.
Aufgeregt zupft der kleine Junge am Hemdsärmel seines Vaters. «Guarda, papà, guarda!», ruft er – schau, dort! – und streckt seinen Zeigefinger in die Höhe. Hin zum Masten, der so weit in den Himmel ragt, als würde er ihn kitzeln wollen. Und zu den hellen Segeln, die das Sonnenlicht einfangen. «Che bella», seufzt ein älterer Herr und verfolgt neidvoll, wie die Passagiere des Segelschiffs die Gangway heruntertrippeln. Rechts und links klicken die Fotoapparate.
Ob in Palermo, Catania oder Syrakus – in jedem Hafen, in dem die Sea Cloud festmacht, die gleichen «Bräute»: Passanten, die mit glänzenden Augen am Kai stehen, die Köpfe tief in den Nacken gelegt, Sehnsucht im Blick. Das massige Containerschiff aus Russland? Der Kreuzfahrtdampfer mit dem bunten Schriftzug am Bug? Ihre Kapitäne müssen tapfer sein, denn ihren Schiffen wird kein Blick gewidmet. Selbst den Schwergewichten stiehlt die filigrane alte Dame die Schau.
Als die Sea Cloud vor achtzig Jahren unter dem Namen Hussar vom Stapel lief, war sie das letzte Viermastsegelschiff, das gebaut werden sollte. Eine Liebeserklärung des Börsentycoons Edward Francis Hutton an seine junge Ehefrau Marjorie Merri weather Post, Erbin eines Frühstücksflocken-Imperiums und gewohnt zu zeigen, was man hat. Luxuriöser und schöner als alles Dagewesene sollte ihre Jacht sein, egal, wie viel Kopfzerbrechen die ehrgeizigen Pläne den Konstrukteuren bereiteten: Obwohl im Bauch des aus Kruppstahl gebauten Schiffes starke Elektro-Dieselmotoren ratterten, bestand Marjorie darauf, dass vier grosse Segelmasten den schlanken Rumpf der Sea Cloud zieren sollten.
Während des Zweiten Weltkrieges kreuzte die Sea Cloud als Wetterschiff vor den Azoren und Grönland, funkte alle vier Stunden Daten in die USA, bevor Marjorie sie 1955 schliesslich an den dominikanischen Diktator Rafael Trujillo verkaufte. Die Kosten für den Unterhalt und die fast 80-köpfige Mannschaft wuchsen selbst der Millionärin über den Kopf. Mit der Ermordung Trujillos begann auch der Verfall der Sea Cloud: Acht Jahre lang dümpelte das einstmals stolze Schiff im Hafen von Colon in Panama vor sich hin, starke Sonneneinstrahlung und hohe Luftfeuchtigkeit nagten am Holz, liessen es morsch werden und verrotten. Die Rettung nahte 1979: Der deutsche Kapitän Hartmut Paschburg entdeckte das marode Schiff und überredete Hamburger Kaufleute, es wieder seetüchtig zu machen. Seitdem segelt die Sea Cloud in alter Pracht als Passagierschiff durch die Weltmeere.
Endlich hat Neptun ein Einsehen. Schaumkronen sitzen auf den Wellen und die Schiffsglocke läutet dreimal. Der helle Ton tanzt übers Deck, Musik in den Ohren der Passagiere! Nach zwei Tagen Windstille werden die Segel wieder gesetzt. «Der Anblick ist zu schön», sagt Felicitas, eine Künstlerin aus Berlin, und eilt zum Lido-Deck, von wo aus man die beste Sicht auf das Spektakel hat. Zehn Matrosen mit tiefseeblauen Hosen und Turnschuhen klettern die Masten der Sea Cloud hinauf, die Karabinerhaken klicken ein. Wer hier arbeitet, muss schwindelfrei sein: Ganze 54 Meter geht es hinauf, höher und höher kraxeln die Männer, der Achtermast ist nur wenig kürzer als das Zürcher Grossmünster. Wie Zirkusartisten balancieren die «Deckhands» in der Takelage und lösen die Taue, mit denen die Segel befestigt sind. Fast 3000 Quadratmeter Tuch, in das der Wind greift und die Sea Cloud übers Mittelmeer trägt, von Hafen zu Hafen, von Erlebnis zu Erlebnis.
«Bevor ich hier zu arbeiten begann, habe ich den Begriff Seefahrerromantik für Quatsch gehalten», sagt Pastry-Chef Marc Hetzler, «aber es ist wirklich etwas dran. Zu Hause würde ich sechs Tage die Woche das Gleiche machen, hier ist jeder Tag ein kleines Abenteuer.» Der gelernte Konditor aus Giessen ist nicht nur für Croissants, Muffins, Vanille-Himbeer-Pannacotta und Mousse au Chocolat zuständig, sondern auch für den Nachmittagstee. Gegen 16 Uhr, nachdem der Tender, das kleine Beiboot, die letzten Gäste von ihrem Tagesausflug nach Lipari zurückgeschaukelt hat, serviert Marc auf dem Promenadendeck frisch gebackene Crêpes mit Caramelsauce und Walnusseis. Während der Teig auf der heissen Platte Blasen wirft und langsam goldbraun wird, stehen die Passagiere Schlange und plaudern miteinander. Ob man ebenfalls das Archäologiemuseum mit den Keramiken aus dem 5. Jahrhundert besichtigt oder der Enkelin eine Kette aus Lavastein mitgebracht habe?
Trotz täglich wechselnder Sehenswürdigkeiten, Schlemmereien und einem Service, der mit jedem 5-Sterne-Hotel mithalten kann, ist die Sea Cloud kein schwimmendes Luxushotel und ihre Gäste keine Diven mit Hollywood-Allüren. Wer eine Schifffahrt auf diesem Windjammer bucht, sucht vor allem eins: die Romantik vergangener Zeiten und die Nähe zu den Elementen. Keine Animation mit Musical und Hokuspokus – das höchste der Gefühle sind die Shanty-Sänger, die später auf dem Lido-Deck auftreten sollen. Wenn das Wetter es denn zulässt. Eben noch strahlender Sonnenschein, jetzt greint der Himmel und der Wind bläst, als gelte es, eine Regatta zu gewinnen. Kapuzen werden über die Ohren gezogen, Zeitungen wehen über Bord, die Sea Cloud knarzt und ächzt. Die ersten Passagiere verziehen sich in ihre Kabinen, an Deck sammelt die Crew eilig die Polster von den Liegestühlen ein und zurrt alles fest, was nicht niet- und nagelfest ist. Schiffsärztin Ellen verteilt vorsorglich Tabletten gegen Übelkeit. «Und immer eine Hand am Schiff!», mahnt sie die Vorüberwankenden.
«Das ist doch gar nichts», sagt Bebot, der Barkeeper, und lacht. Seit 29 Jahren arbeitet der Filipino aus Manila auf der Sea Cloud, mehr als sein halbes Leben hat er zwischen Bug und Heck verbracht, seinem «Zuhause». «1984 lagen wir vor Bermuda und haben 16 Tage lang die Sonne nicht gesehen, weil es so sehr gestürmt hat.» Damals zerrissen neun Segel, das Klavier kippte um, Rotweingläser flogen in den Kamin und ein Gast fiel mitsamt seiner Matratze aus dem Bett. «Trotzdem habe ich keine einzige Sekunde Angst gehabt. Ich liebe dieses Schiff und vertraue ihm total.» Und schliesslich, erzählt Bebot im Flüsterton, habe die Sea Cloud etwas Magisches an sich. «Einmal sass ich um drei Uhr nachts in der Lounge, als sich die Tür plötzlich wie von Geisterhand öffnete und ich das Gefühl hatte, dass mir jemand beruhigend über die Schulter streicht.»
Am Abend findet die «Open-House-Party» statt. Dann dürfen alle Gäste einen Blick in die zehn «Originalkabinen» werfen, die Marjorie selbst eingerichtet hatte. Hier zog sie ihre Tochter Dina gross (die immer noch regelmässig auf der Sea Cloud mitsegelt) und beherbergte die Hautevolee. Die antiken Kommoden und Betten aus Mahagoni, die goldenen Wasserhähne in Schwanenform, die Kronleuchter, die begehbaren Kleiderschränke und die Kamine aus Carrara-Marmor sind noch weitestgehend in ihrem Originalzustand erhalten – nur in den Feuerstellen glitzern jetzt künstliche Kristalle, denn die Brandvorschriften sind streng. «Wir haben stark dafür kämpfen müssen, dass die Kabinen überhaupt so erhalten bleiben konnten», erzählt Hotel-Managerin Tina Kistenmacher. Seit November 2010 gelten für historische Schiffe dieselben Sicherheitsvorschriften wie für moderne Kreuzfahrtschiffe. Ein halbes Jahr musste die Sea Cloud ins Trockendock nach Bremerhaven, um den neuen Bestimmungen angepasst zu werden.
In den Kabinen und Salons wurde jedes einzelne Brett der Täfelung abgenommen, feuerfest beschichtet und wieder an seinem alten Platz eingefügt. Die Stahlmasten wurden teilweise erneuert, Fluchtwege, Lagerräume und die Kabinen der Crew neu gestaltet. «Früher gab es einen Schlafsaal für 18 Personen, jetzt gibt es nur noch Zweier- und Viererkabinen», erzählt Bebot. «Uns halten zwar alle für verrückt, denen wir es erzählen, aber wir vermissen den grossen Schlafsaal. Fast jeden Abend haben wir dort Gitarre gespielt und gesungen.» Für die Gäste jedoch ist keine Veränderung sichtbar – das heisst, bis auf den kleinen weissen Laptop in der Lounge, mit dem man jetzt ins Internet gehen kann. Fernseher sind aber auch weiterhin tabu auf der Sea Cloud – man bleibt der Tradition verpflichtet.
Am Vormittag wird bereits spekuliert: Wer heute wohl eine Einladung an den Kapitänstisch auf seinem Bett vorfinden wird? Um 20 Uhr findet das Farewell-Dinner mit Kapitän Vladimir Pushkarev statt. Der Russe mit den vier goldenen Streifen an der Uniform hat zu Entenbouillon mit Rosmarinschaum und Labskaus geladen. «Ich hoffe, es klingt nicht arrogant, aber bislang habe ich bei jeder Reise eine Einladung an den Captain’s Table erhalten», erzählt der schüchterne Ingenieur aus Berlin und schaut ein wenig verlegen drein. Bloss nicht prahlen, das tun vielleicht die Passagiere von anderen Kreuzfahrtschiffen, auf der Sea Cloud sind Allüren verpönt. Ein bisschen Stolz schwingt trotzdem mit in seiner Stimme. Die erste Reise mit dem Luxussegler hat der Berliner sich zu seinem 50. Geburtstag gegönnt, damals hat er gemeinsam mit anderen Passagieren den «Sea Cloud Lovers Club» gegründet. Es ist bereits die dritte Reise, zu der man sich verabredet hat. Und man ist sich immer noch einig, an diesem letzten Abend der Sizilienreise, der mit reichlich Champagner begossen wird: «Die Sea Cloud verdirbt einen für alle anderen Schiffe.»
Von Tina Bremer
Schiffsreisen, Kreuzfahrt, Cruise, Schiff