Obwohl es das grösste zusammenhängende Atoll der Welt ist und die grösste Schildkröten-Population der Erde beheimatet, kennt kaum jemand das Unesco-Weltnaturerbe Aldabra.
«Sie braucht Hilfe! Wer kommt mit?» Im Nu sitzen sechs Mann im Dingi. Guy, der Guide, hat am Strand eine grüne Riesen-Wasserschildkröte geortet. Die Schildkrötenmama ist vollkommen erschöpft. Scheinbar hatte sie sich im Inselinneren verirrt. Und der heisse Sand ermüdete sie vollends. Die Lady wird sofort mit kühlendem Meerwasser übergossen. Schildkröten sind zwar in der Lage, sechs Monate ohne Nahrung und Wasser zu überleben, aber die Kaltblütler können ihre Temperatur nicht regulieren und an Überhitzung sterben. Soweit kommt es nicht: Die Jungs packen an und tragen das Tier in die Fluten. Guy schätzt die Dame auf 35 Jahre und 150 Kilogramm.
Aldabra: grün, flach, etwas unscheinbar und riesig, nur per Schiff erreichbar und unbewohnt – abgesehen von 8 bis 15 Wissenschaftlern. Das Atoll wurde erst im 17. Jahrhundert entdeckt und ist im Lauf der vergangenen 775 Millionen Jahre viermal untergegangen, zuletzt vor 130 000 Jahren. Durch Vulkanausbrüche unter der Meeresoberfläche ist Aldabra aber immer wieder neu entstanden. Und immer wieder siedelten sich auch Landschildkröten an. Derzeit leben gut 150 000 Exemplare auf der Insel: die grösste Population dieser Art auf der Welt. Schon 1874 bat Charles Darwin den damals zuständigen Gouverneur von Mauritius um Schutz für die Insel. Seefahrer nahmen dort stets Schildkröten als lebendige Nahrungsmittel auf.
Heute müssen Besucher beim Landgang aufpassen, dass sie nicht über die gepanzerten Riesen stolpern, so viele sind es. Auf die Jungen ist besonders zu achten. Sie haben die Grösse, wie man sie aus Tierhandlungen kennt. Diese fünf bis acht Jahre alten Tiere sind ein bis zwei Kilogramm schwer und unter all den Riesen mit 400 Kilogramm und bis zu 200 Jahren auf dem Buckel unscheinbar wie Käfer. Interessiert beobachten sie die fremden Besucher, als wären sie Ausserirdische. Einige mampfen genüsslich Gras, wieder andere dösen im Schatten und so manches Pärchen sorgt dafür, dass die 150 000 Artgenossen nicht weniger werden. Der Akt erinnert allerdings wenig an ein Liebesspiel. Wobei die Schildkrötendame das Sperma bunkern kann. Sie wird schwanger, wann es ihr passt.
Im Sog mit Tausenden Fischen
Die Lagune von Aldabra pumpt jeden Tag eine Milliarde Kubikliter Wasser. Zweimal leert die Ebbe die Lagune fast vollständig und zweimal wird sie wieder geflutet. Vor der Ebbe versuchen alle Fische, Wasserschildkröten, Rochen und Junghaie beinahe gleichzeitig die Lagune zu verlassen, sich vom Sog rausziehen zu lassen. Da es aber nur vier Ausgänge, also Kanäle zum offenen Meer, gibt, kommt es zum Stau. Der Riesengrouper stupft dabei den kleinen Hammerhai beiseite. Der Stechroche schwebt als fliegender Teppich über allen hinweg. Schwärme von Fischen in verschiedenen Farben colorieren den Kanal. Der Red Soldierfish sowie die gelblich-schwarzen Sergeant Major klingen zwar namentlich wie Vorgesetzte, aber den Unterwasserverkehr regeln sie nicht. Es geht drunter und drüber.
Auch wir sind mittendrin, lassen uns treiben, im Main Channel nach draussen ziehen. Trompeten-, Flöten- und Nadelfische umkurven die Menschen elegant, ein mürrisch dreinschauender Grouper schwimmt nur haarscharf vorbei: Platz da! Dann wird’s dunkel: Über und unter, rechts und links von uns ist es stockfinster, als ob man in einen Schlund geschwommen wäre. Ein Schwarm rundlicher Batfische, die mit ihrem Buckel aussehen wie die Glöckner von Aldabra, zieht vorüber und lässt die Taucher während ihres Überholvorgangs wie in einem Tunnel mitschwimmen. Es müssen Hunderte oder gar Tausende sein. Als es wieder hell wird, heisst es aufgepasst: Die Kanalmündung ist nahe. Und draussen im offenen Meer lauern bei Ebbe in der Lagune die grossen Kaliber, ausgewachsene Weissspitzhaie und mächtige Barrakudas. Die Beute schwimmt ihnen praktisch ins Maul. Bootsmann Fintan lässt es nicht darauf ankommen und fischt die Mitglieder der Wasserexpedition zuvor ins Dingi.
Baden mit Haien
Die auf der Insel stationierten Ranger und Wissenschaftler geben einen Badetipp, bringen die Gäste zu ihrem Lieblingsstrand Settlement Beach und warten genüsslich auf den ersten Schrei. Kaum im Wasser, tauchen Dutzende von Flossen auf: Haie! Sie umkreisen einen, berühren einen und Aldabra-Volontärin Lucy quiekt an Land vor Schadenfreude: «Keine Angst! Ihr seid nur auf dem Spielplatz junger Riffhaie gelandet. Sie tun euch nichts, die wollen nur spielen!» Die Riffhaie sind etwa 1,20 Meter lang und scheinbar wirklich zahm. Ein Anrempeln bedeutet wohl: Hey, wer bist du denn? Komm, spiel mit mir! Mit dem Dingi geht es unversehrt zurück auf unsere «Sea Star». Es ist ein Wellenritt. Erst im fünften Anlauf gelingt es Bootsmann Fintan, über den starken Brandungskamm zu kommen.
Zehn Meter, acht, sieben, fünf Meter – drei? – zwei! – Ein einziger Meter Abstand – und nichts tut sich. Gar nichts! Obgleich der Tölpel im Nest sitzt und ein Junges hat. Die Vögel von Aldabra kennen Menschen nicht, zumindest nicht als Feind. Deshalb kommen Besucher sehr nahe an die Tiere heran, ohne diese zu stressen. Und wer fotografiert, spürt schnell, dass die Kerle grosses Interesse an der Linse haben: Spiegelt sich doch da ein netter Kerl, der aussieht wie ein Tölpel. Aldabra-kadabra, das ist der ganze Zauber unberührter Natur.
Text: Jochen Müssig
Seychellen – Hundert Inseln, eine schöner als die andere
Rund hundert Inseln gehören zur Gruppe der Seychellen, die wie kaum ein anderes Inselreich weltweit bekannt wurden, weil sie so exklusiv wie schön und natürlich zugleich sind. Mahé ist die auf den ganzen Archipel bezogen vergleichsweise unattraktive Hauptinsel, aber das Tor zu jedem weiteren Eiland. Aldabra ist sicherlich die exotischste, Frégate die teuerste und La Digue die hübscheste der Seychellen-Inseln. Höhepunkte auf La Digue sind die Anse Source d’Argent mit den wohl schönsten Granitformationen hinter weissen Sandbuchten weltweit, aber auch Grand und Petite Anse sowie die einsam gelegene Anse Cocos überzeugen. Ausserdem beim Island Hopping einen Abstecher wert: Praslin, ebenfalls mit Granitsteinstränden gesegnet und Heimat der wohlgeformten Coco de Mer. Desroches, die etwas abgelegene, sehr luxuriöse und paradiesisch-schöne «Four-Seasons»-Insel. Silhouette, das schroffe Eiland unter all den Strandschönheiten, und Bird Island, die Insel der Vögel.
Gut zu wissen
Lage: Aldabra liegt abseits im Indischen Ozean. Geografisch liegt es näher bei Madagaskar, gehört aber politisch zu den Seychellen. Im Atoll gibt es keine Mobilfunk-Antennen und damit auch keinen Empfang.
Anreise: Ausschliesslich über die Seychellen-Hauptstadt Mahé, von da geht es weiter nach Assumption. Dort wartet das Segelschiff «Sea Star» auf maximal 14 Gäste. Eine Reise kostet ab rund 12 000 Franken pro Person. aldabraexpeditions.com
Gesundheit: Es sind keine Impfungen erforderlich, Malaria oder andere Tropenkrankheiten sind nicht bekannt. Wichtig sind Sunblocker, ein Medikament gegen Seekrankheit, Mückenspray, Desinfektionsmittel und eine sehr gut sortierte Reiseapotheke. Wenn die «Sea Star» im Atoll unterwegs ist, nimmt der Weg zum nächsten Arzt Tage in Anspruch.