Junge Künstler aus Mode, Design und Architektur prägen das moderne Gesicht Shanghais als aufstrebende Metropole Chinas. Viele von ihnen machen sich längst auch im Westen einen Namen.
Chinesen sind Spieler. Schliesslich geht es dabei um ihre Zukunft, um Träume und die Chance, in kurzer Zeit vielleicht das eigene Schicksal zu wenden.
Je höher, desto besser, lautet deshalb auch die Devise von Shanghais Stadtplanern. Verkörpert doch ein hohes Gebäude vor allem eines: Macht und Ansehen. Noch in diesem Jahr eröffnet im Finanzdistrikt auf Pudong das höchste Gebäude Chinas mit der höchsten Aussichtsplattform der Welt: der Shanghai Tower. Der 632 Meter hohe Turm aus zylindrisch aufeinandergestapelten Glassegmenten schraubt sich wie eine Spirale in den Himmel. Diese vertikale Stadt aus Finanz- und Shoppingzentren, Konferenzräumen und Hotels wird jedoch den Höhenrekord nicht lange halten. Schon nächstes Jahr soll er in Shenzhen, die neben Shanghai am schnellsten wachsende Stadt Chinas im Hinterland von Hongkong, übertrumpft werden.
Von oben herab
Dabei ist bereits die Aussicht von der obersten Plattform des Shanghai Tower schwindelerregend. Selbst den Hochhausriesen in nächster Nachbarschaft, dem Jin Mao Tower (420 Meter) und dem World Financial Center (492 Meter), kann man von hier aus aufs Dach schauen. Der eine trägt eine Pagode, der andere eine Art Flaschenöffner als Spitze. Daneben sieht der alte Fernsehturm des Oriental Tower (468 Meter) mit seinen rot-grauen Kugeln, die in der Sonne glänzen wie Rubine, fast schon altmodisch aus. Unten auf dem Huangpu-Fluss schieben sich indes schwere Lastkähne wie kleine Spielzeugbötchen vorbei.
Zu beiden Seiten des Flusses verteilen sich die imposantesten und zugleich konträrsten Architekturstile der Stadt: Auf Pudong die moderne Skyline aus Glas und Stahl und direkt gegenüber an der Uferpromenade, dem Bund, historische Gebäude aus den 1920er und 30er Jahren. Internationale Handelsimperien und Banken liessen viele Gebäude im avantgardistischen Art-déco-Stil errichten, was der Stadt den Ruf als chinesisches Gotham-City einbrachte. Der Grossindustrielle Victor Sassoon galt zu jener Zeit als Mann, der mitseinen Bauwerken die Stadt veränderte. Keiner baute höher, keiner spektakulärer. Als schien er zu ahnen, dass ihm eines Tages moderne Wolkenkratzer die Show stehlen wollen, tragen Peace Hotel und Embankment House aus der Vogelperspektive betrachtet seine Initialen: VS.
Über die heimliche Rache von Victor Sassoon kann sich Lu Kun genauso freuen wie über die regelmässige Mischung aus Smog und Nebel, welche die ihm so verhassten, modernen Hochhausmonster auf Pudong für eine Weile verschwinden lassen. Lu Kun fühlt sich ohne Zweifel dem Art déco verbunden. Der kleine Mann mit der grossen Begabung zählt zu den coolsten Modedesignern Chinas, die sich auch im Westen einen Namen machen konnten. Schon als Vierjähriger malte Lu gerne und besuchte eine Kunstschule. Davon könne man nicht leben, meinte die Mama und liess ihn das Schneiderhandwerk lernen. Bald schon gründete Lu Kun Shanghais jüngstes Modelabel und behauptet noch heute bescheiden: «Schneidern ist mein Handwerk, Design mein Hobby.» Dabei zaubert der 34-Jährige inzwischen Prominenten wie Paris Hilton und Victoria Beckham stilvolle Abendroben im Flair der 1920er und 30er Jahre auf den Luxuskörper. Inspirieren lässt er sich von dem, was er am besten kennt: seine Heimatstadt. In seinen Entwürfen nimmt er die geraden, geometrischen Linien der Architektur des Art déco auf und kreiert daraus einen modernen, klassisch-eleganten Chic. «Designed in China muss weltweit Made in China ablösen», sagt Lu Kun. Es ginge darum, selber hochwertige Originale zu schaffen und nicht nur billige Kopien.
Lokales auf dem Teller
Das Wiederaufleben des Shanghai Chic der 1930er Jahre bringt auch elegante Restaurants wie das Sir Elly’s im Peninsula mit sich. In der mondänen Lobby wird zum ersten Mal exklusiver Caviar-Afternoon-Tea angeboten. Es ist der erste chinesische Kaviar überhaupt, der seit vergangenem Jahr im Seengebiet von Hangzhou geerntet wird. Als Hafenmetropole ist Shanghai ohnehin für seine leckeren Garküchen bekannt. Für westliche Besucher empfiehlt sich eine geführte Probiertour über den Nachtmarkt, wo man lokale Spezialitäten problemlos geniessen kann. Da lodern die Wokpfannen und ringeln sich braungestreifte Süsswasserschlangen in den Wasserbecken. Ihr gegrilltes Fleisch schmeckt wie Hühnchen, lässt sich aber nur mühsam vom Gerippe nagen. Leckerer sind die gedämpften Flusskrebse mit Lotuswurzeln und Enoki-Pilzen. Nach dem üppigen Mahl für nicht mal 10 Franken türmen sich Essensreste, Stäbchen und Plastikteller zu einem Stillleben, das als Installation in einer der vielen modernen Kunstgalerien durchaus vorzeigbar wäre.
Die Kunst von morgen
Welchen Wert man der Kunst in Shanghai inzwischen beimisst, zeigt sich auch daran, dass das Auktionshaus Christie’s erst kürzlich als erstes ausländisches Unternehmen eine Lizenz zur Direktvermarktung bekommen hat. Schliesslich zahlen Sammler weltweit inzwischen absurde Preise. 100 Millionen Franken für ein Ge-mälde sind keine Seltenheit. In China hinke der Markt etwa ein halbes Jahrhundert hinterher, heisst es bei Christie’s. Da sei man mit der Wahrnehmung gerade mal bei Picasso oder Chagall angelangt. Video-Installationen und Fotokunst hätten bislang nur wenige Chinesen auf dem Radar.
Das könnte sich rasch ändern. Denn inzwischen repräsentieren junge Künstler wie die 35-jährige Chen Man Chinas avantgardistisches Foto-Design längst auf internationalem Parkett. Zur Zeit der Kulturrevolution und Ein-Kind-Politik waren Chen Mans Eltern noch in die Mongolei geflohen, um die Tochter zur Welt zu bringen. Als politische Künstlerin hat sie sich dennoch nicht etabliert. Mit mehr als einer Million Fans in sozialen Netzwerken gehört sie vielmehr einer Generation an, die sich schnell an westlichen Einfluss gewöhnt hat. «Mein Land hat einen gigantischen Sprung gemacht. Ganz so, als würde Nordkorea ad hoc ein Teil von Westeuropa werden», beschreibt Chen Man, die inzwischen Modestrecken für Vogue, Haper’s Bazaar und Werbekampagnen für Adidas und Gucci fotografiert. Ihre Bilder haben sich bisweilen einer überzeichneten Werbeästhetik verschrieben, die Fotografie mit gemalten Elementen verbindet. Eine Aufnahme zeigt zum Beispiel eine blasse, junge Frau, die in blutrotem Kleid unter roter China-Flagge vor grauer Skylinekulisse salutiert. Der Titel: Lang lebe die Heimat Shanghai!
Von Margrit Kohl