Sri Lankas kostbarste Reliquie hat auf einer Fingerkuppe Platz. Doch wer ihrer Spur durch die Insel folgt, entdeckt grosse Geschichten.
Der Weg zum Allerheiligsten führt durch üppig grüne Reisfelder und Teeplantagen. Heilige Kühe und bunte Tempel säumen die Strasse, die ins Herz der Tropeninsel führt. Sri Lanka birgt etliche Unesco-Welterbestätten und zahllose Reichtümer, doch die Stadt Kandy verwahrt einen Schatz, dem kein anderer ebenbürtig ist. Dabei ist das Heiligtum ein winziges Ding. Es hat gar auf einer Fingerkuppe Platz.
Um den linken Eckzahn Siddharta Gautamas zankten sich einst illustre Herrscher und ganze Königreiche. Er ist die wichtigste Reliquie Sri Lankas. Wer den Zahn Buddhas besass, so hiess es, dem gehöre die Macht. Woher aber kam der heilige Zahn? Eine Spurensuche führt zu den alten Machtzentren der Insel, in vom Dschungel überwucherte Ruinen, zu geheimnisvollen Buddha-Statuen und uralten Tempelstädten. Kandy, die einst im dichten Urwald verborgene Hauptstadt des singhalesischen Königreichs, trotzte bis 1815 den Eroberungsgelüsten von Portugiesen und Briten.
Sri Vikrama Rajasinha, der letzte König von Kandy, liess hier einen grossen See anlegen. Im dunklen Wasser spiegeln sich die weissen Säulen und das rote Ziegeldach des Badepavillons, in dem einst Königinnen und Konkubinen planschten. Über den See wacht ein selig lächelnder Buddha auf einem bewaldeten Hügel. Unter seinem Antlitz liegt Sri Dalada Maligawa, der Zahntempel, Sri Lankas wichtigstes Heiligtum. Vor dem von aussen nur wenig schmuckvollen Gebäude drängen sich die Gläubigen. Mönche in orangefarbenen Gewändern eilen über den Platz. Ein Mädchen in weissem Kleid verteilt zartviolette Lotusblüten als Opfergaben. Beim Schrein des Zahnes, eingerahmt von gewaltigen Elefantenstosszähnen, liegen ganze Blütenteppiche.
Schwindelfreie treffen auf Wolkenmädchen
Jedes Jahr im Juli feiert Sri Lanka das grösste buddhistische Fest der Welt. Bei der Esala-Perahera trägt ein mit unzähligen Lichtern und Zierrat geschmückter Elefantenbulle ein goldenes Kästchen mit dem Zahn des Erleuchteten durch die Strassen der Stadt. An der Parade in einer Vollmondnacht laufen Dutzende weitere Elefanten dem Bullen nach, begleitet von Hunderten Tänzern. Sie tragen bestickte Turbane, prachtvolle Gewänder und jonglieren mit Feuer. Musiker spielen und unzählige Luftballons steigen dem Mond entgegen. Für diese Nacht ist Kandy nicht nur das Zentrum der Insel, es ist das Zentrum der Welt. Doch der Zahn wurde anderswo schon lange vor der ersten Esala-Perahera mit rauschenden Festen gefeiert.
Wer sich von Kandy aus auf den Weg zu diesen Stätten macht, kommt am Löwenfelsen von Sigiriya vorbei. Er hat nicht direkt mit der Reliquie zu tun, erinnert aber in seiner Form an einen Backenzahn. 200 Meter hoch ragt der Granitblock aus der Dschungelebene auf. Nicht nur die Festung, die König Kassapa I. im 5. Jahrhundert nach Christus in schwindelerregender Höhe errichten liess, auch das ausgeklügelte Bewässerungssystem und die geometrischen Teichanlagen am Fusse des Felsens zeugen von beeindruckender Ingenieurskunst. Der Legende nach floh Kassapa I. vor seiner Familie auf den uneinnehmbaren Tafelberg. Bis zur Festung hinauf sind es mehr als 1000 Stufen entlang senkrechter Wände. Früher sollen Teile des Felsens mit farbenprächtigen Fresken geschmückt gewesen sein, darunter Hunderte elegante Porträts von Frauen mit schmalen Taillen und prallen Brüsten. Der König soll einst 500 Mädchen aus dem ganzen Land verschleppt und zu seinen Gespielinnen gemacht haben. Ein Rendezvous mit den letzten vorhandenen Abbildern der berühmten Wolkenmädchen erfordert Schwindelfreiheit
und Mut.
Pilgerstadt dank Pappelfeige
Von den Lüsten des Fleisches zum Streben nach Erleuchtung führt eine alte Pilgerroute nach Osten. Im 12. Jahrhundert nach Christus war Polonnaruwa das politische und religiöse Zentrum der Insel. Noch heute zeugt das schiere Ausmass der Anlage von der einstigen Macht der singhalesischen Könige. Hier kann man einen ganzen Tag lang durch die Überbleibsel von Palästen und Tempeln spazieren. Vorbei an monumentalen Buddha-Statuen führt der Weg zum Rundtempel Vatadage, wo der Eckzahn Siddharta Gautamas während der Blütezeit Polonnaruwas aufbewahrt wurde. Über den mit Elefanten und Pferden verzierten Mondstein, der den Übergang von der irdischen in die spirituelle Welt symbolisiert, schreiten Gäste die mit eindrucksvollen Reliefs geschmückte Treppe hinauf. Später soll die Reliquie in den nahen Hatadage-Tempel gebracht worden sein.
Kaum vorstellbar, dass Polonnaruwas edle Grösse einst noch von ihrer ärgsten Konkurrentin Anuradhapura übertroffen wurde. Weit über ein Jahrtausend zurück in die Geschichte führt der Weg weiter nach Nordwesten in Richtung der ersten Hauptstadt Sri Lankas. Früher war die Ebene von dichten Wäldern bedeckt. Heute ist sie von unzähligen Reisfeldern und künstlichen Seen gesprenkelt. Ihre Ränder bevölkern Tausende Reiher, Störche und andere Vögel. Träge Wasserbüffel suchen im Uferschlamm Abkühlung vor der sengenden Mittagssonne. Anuradhapura war in den ersten beiden Jahrhunderten nach Christus eine der grössten Metropolen ihrer Zeit. Eine der ältesten noch existierenden Schulen des Buddhismus, die singhalesische Theravada, hat hier ihre Wiege. Ihre Bedeutung als Pilgerziel verdankt die Stadt vor allem einer Pappelfeige, die als direkter Setzling von dem Baum verehrt wird, unter dem Siddharta Gautama seine Erleuchtung erlebt haben soll. Der Jaya Sri Maha Bodhi wurde 236 vor Christus gepflanzt und gilt als ältester von Menschen gesteckter Baum der Welt. Seine ausladenden Äste werden von goldenen Stangen gestützt und sind mit bunten Fähnchen geschmückt. Schulkinder legen in seinem Schatten Blumen nieder, Mönche beten.
Eine Prinzessin als Pilgerin getarnt
In Anuradhapura kann man von einer Stupa zur nächsten spazieren, bis man die vielen Buddha-Statuen nicht mehr zählen kann. Von der riesigen weissen Glockenkuppel der Ruwanwelisaya-Dagoba ist es nicht weit zur backsteingemauerten Jetavanaramaya-Dagoba, die es in ihrer Monumentalität mit den Cheopspyramiden aufnehmen kann. Die Suche nach dem einstigen Zuhause des heiligen Zahns aber führt zu einem der ältesten Klöster Sri Lankas. Das Abhayagiri-Kloster war früher nicht nur ein Zentrum der Meditation, sondern auch der Wissenschaft und Philosophie. Hier fand die Zahnreliquie für Jahrhunderte ihre erste Ruhestätte in Sri Lanka.
Ins Land gelangte sie im 4. Jahrhundert; eine als Pilgerin getarnte Prinzessin soll sie in ihrem Haar versteckt und aus Indien über das Meer geschmuggelt haben. Die Geschichte vor ihrer Ankunft in Sri Lanka verliert sich in einem Wust an Legenden. Es heisst, Shiva-Anhänger hätten die Reliquie zerstören wollen, indische Herrscher zankten sich um sie und selbst die Chinesen sollen ein Auge auf den Zahn geworfen haben. Später wollten die portugiesischen Kolonisatoren den Zahn zermalmen und die Briten die Esala-Perahera für immer verbieten. Zuletzt versuchte eine Gruppe der Tamil Tigers am 25. Januar 1998 mit einem Anschlag auf das Sri Dalada Maligawa den Zahn zu zerstören. Sie alle konnten dem Heiligtum aber nichts anhaben. Es hat die Jahrhunderte unbeschadet überdauert und scheint nun in Kandy vorerst seine Ruhe gefunden zu haben.
Von Winfried Schumacher, Bild: Uga Escapes
GUT ZU WISSEN
Anreise: Edelweiss fliegt ab November zweimal wöchentlich nach Colombo. Von dort reist man am besten mit einem Mietwagen ins Inselinnere. flyedelweiss.com
Hotels: Die fünf Boutiquehotels von Uga Escapes liegen ideal für eine Entdeckungstour rund um die Insel. Versteckt im Dschungel zwischen der Tempelstadt Anuradhapura und der Festung Sigiriya liegt das vornehme Ulagalla. Den Mittelpunkt der Parkanlage bildet ein restauriertes, 150 Jahre altes Walauwa, ein Herrenhaus, das einst Sitz eines singhalesischen Stammesfürsten war. Die stilvollen Cottages des Jungle Beach an einem ruhigen Strandabschnitt nördlich von Nilaveli laden zum Entspannen nach einer Tour durch Polonnaruwa ein.
Kreuzfahrt: Das luxuriöse Kreuzfahrtschiff Silver Discoverer der monegassischen Silversea-Expeditionsflotte erkundet Sri Lanka regelmässig.
Infos und Buchungen: tourasia.ch; srilanka.travel