Einst verdammten Missionare das grösste Fest Französisch-Polynesiens und es blieb lange Zeit verboten. Heute versetzt das Heiva-Fest Tahiti und seine Nachbarinseln wieder einen Monat lang in Ausnahmezustand.
Trommelwirbel für Rua-Ta’ata. Der Jüngling mit der Brotfrucht dreht sich lasziv im Mondschein, lässt zum anschwellenden Rhythmus der Trommler den nackten Oberkörper beben. Sein spärliches Blättergewand zittert im Wind, die üppig verzierte Palmkrone vibriert. Bald ist Rua-Ta’ata von einer Formation farbig schillernder Tänzerinnen umgeben, glänzende Körper unter wogenden Federn, schimmernde Muscheln und Perlen auf feuchter Haut. Zum wilden Takt der Trommeln erzittert die Insel immer ekstatischer, bis Rua-Ta’ata wie ohnmächtig zu Boden sinkt.
Für die ersten Missionare auf Tahiti war es der Einbruch von Sodom im Paradies. Für die heutigen Touristen ist das Heiva-Fest ein farbenprächtiges Folklore-Spektakel. Was früher wie heute vielen Zuschauern entgeht: für die Tahitianer lebt in den Tänzen des Heiva eine jahrtausendealte Kultur fort. Hinter so mancher Vorführung verbirgt sich eine Legende. Rua-Ta’ata und seine Tänzerinnen erzählen die Geschichte, wie einst Uru, die Brotfrucht, auf die Insel Raiatea kam und zur Lebensgrundlage ihrer Bewohner wurde. Um seine hungernden Kinder zu ernähren, opferte sich Rua-Ta’ata und verwandelte sich in einen Brotfruchtbaum. Der Tänzer im Blättergewand ist in Wahrheit ein Geschichtenerzähler.
Inselolympiade nach alter Tradition
«Das Heiva ist so alt wie unsere Kultur selbst», sagt Irma Prince. Die 70-jährige Polynesierin trägt eine zerzauste Blätterkrone, wie viele der Festbesucher. Zum Auftakt des Heiva Raromatai auf Bora Bora hat sie gerade mit kraftvoller Stimme eine traditionelle Hymne vorgetragen. Auf der eigens aufgebauten Tribüne klatschen die Zuschauer frenetisch. Während zunächst jede Insel ihr eigenes Heiva feiert, treten beim Heiva Raromatai am Ende des Festmonats die Gewinner von Tanzaufführungen, Gesangs- und Sportwettbewerben der verschiedenen Eilande gegeneinander an, eine Art Insel-Olympiade, die uralten Traditionen folgt.
Als Fest der Sünde war das traditionelle Heiva-Fest auf Tahiti und seinen Nachbarinseln lange verbannt. Der zum Christentum bekehrte Pomaré II., König von Tahiti, liess es 1819 verbieten. Heute wird das Fest wieder überall in Französisch-Polynesien ausgelassen gefeiert. «Ganz Bora Bora ist heute dabei», sagt Irma Prince, «vom Säugling bis zur Grossmutter.» Nur wenige Touristen mischen sich unter die Einheimischen. Die Sängerin geniesst den Auftritt vor randvollen Rängen. Sie ist als Diva des Heiva überall auf den Inseln bekannt.
«Alles begann mit General Charles de Gaulle», erzählt die alte Dame mit einem verschmitzten Lächeln. Sie hat sich über all die Jahre die Grazie einer Inselkönigin bewahrt. «Als er einst nach Tahiti kam, suchte man ein Schulmädchen, das vor ihm tanzte.» Die kleine Irma wurde ausgewählt, den berühmten Besucher mit einem traditionellen Tanz zu empfangen. Der General und die Anwesenden schienen beeindruckt und Irmas Karriere als Inseltänzerin war vorprogrammiert. Später wurde sie zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten des Heiva in Tahiti und auf den Inseln ringsum.
«Irgendwann wurde ich eingeladen, in aller Welt zu singen und zu tanzen», erzählt sie. Sie reiste nach Europa, Asien und Südamerika. Überall waren die Menschen begeistert. «In Brasilien tanzten die Menschen mit, in Bahrain wurde ich vor dem Auftritt erst vom Sittenamt überprüft.» Am Ende war sie eine der bedeutendsten Botschafterinnen der Kultur Französisch-Polynesiens. Ihre wichtigste Bühne aber blieb das Heiva. «Ich werde nie mein Paradies verlassen», sagt sie.
Die Kultur des Pazifiks an einem Fest
Viele Touristen kommen nach Tahiti allein für einen Strand- oder Tauchurlaub. Ihnen entgeht die abenteuerliche Geschichte und Kultur eines Volkes, das schon vor Christi Geburt mit einfachen Pirogen die entlegensten Inseln der Erde eroberte und dort eindrucksvolle Zeugnisse hinterliess. Von hier aus wurden Neuseeland, Hawaii und die Osterinsel besiedelt. Das Heiva-Fest bietet eine einzigartige Möglichkeit, die Kultur des Pazifiks kennenzulernen.
Tahiti liegt mehr als 17 000 Kilometer vom französischen Mutterland entfernt. Auch wenn die Inseln ihren eigenen Präsidenten haben – ihr wahres Staatsoberhaupt heisst François Hollande, ihre wahre Hauptstadt ist nicht Papeete, sondern Paris, und ihre Amtssprache Französisch und nicht Tahitianisch. Die ehemalige Kolonie gehört politisch immer noch zur Grande Nation, geniesst aber mehr Unabhängigkeit als etwa die französischen Übersee-Départements Guadeloupe und Martinique in der Karibik, La Réunion und Mayotte im Indischen Ozean und Französisch-Guayana im Norden Südamerikas. Anders als diese ist Französisch-Polynesien nicht Teil der Europäischen Union und hat seine eigene Währung, den Franc der französischen Pazifikkolonien.
Die 118 Inseln und Atolle Französisch-Polynesiens liegen wie eine aufgesprungene Perlenkette inmitten des Pazifiks. Auf einer Wasserfläche von vier Millionen Quadratkilometern – in etwa die Fläche der EU – verteilen sich fruchtbare Vulkaninseln und winzige Koralleneilande. Alle zusammengenommen sind die Inseln gerade einmal halb so gross wie Korsika.
Die fünf Hauptarchipele sind teils Flugstunden voneinander entfernt. Viele Touristen besuchen einzig die Gesellschaftsinseln, zu denen Tahiti selbst und die benachbarten Inseln gehören. Am beliebtesten sind das 17 Kilometer von dem wirtschaftlichen Zentrum Papeete entfernte Moorea mit seiner Bilderbuchlagune und der steil aufragenden Bergsilhouette und das von Flitterwöchlern belagerte Bora Bora. Weit ursprünglicher sind die Nachbarinseln Raiatea, Huahine und Tahaa. Noch weniger besucht sind die Atolle von Tuamotu im Nordosten von Tahiti. Sie sind für ihre schwarzen Perlen berühmt.
Mit vier Flugstunden Entfernung von Tahiti bilden die Marquesas einen der abgeschiedensten Archipele der Welt. Der Maler Paul Gauguin flüchtete einst nach Hiva Oa, als ihm Tahiti nicht mehr einsam genug war. Auf den Marquesas finden sich die wichtigsten Ausgrabungsstätten Französisch-Polynesiens. Wem die Marquesas immer noch nicht abgeschieden genug sind, der findet auf den Austral- und Gambierinseln sein Exil. Hier leben die Menschen noch wie vor Jahrhunderten vom Fischfang und der Landwirtschaft.
Archaische Kokosnussknacker
Auf dem zentralen Platz von Vaitape, der grössten Siedlung auf Bora Bora, hat sich am Morgen eine Menge von mehreren hundert Menschen um eine Reihe mit aufgetürmten Kokosnüssen versammelt. Sie wollen dabei sein, wenn der König der Kokosnussknacker gekürt wird. Die Sportler-Duos von verschiedenen Inseln sind nur mit einem um die Hüfte gewickelten Pareo und einem Blätterkranz bekleidet. Die meisten tragen traditionelle Tattoos auf den muskelbepackten Oberarmen und Schultern. Mit ihren Beilen muten sie wahrhaft archaisch an.
Als der Schiedsrichter das Startsignal gibt, schlagen die Athleten mit wilder Wucht auf ihre Kokosnusshaufen ein. Die Menge johlt und feuert ihre Idole an. Sieger ist, wer am Ende die meisten Nüsse zerschlägt und das meiste Fruchtfleisch sammelt. Kinder und Jugendliche drängen sich um die Kokosnusshaufen.
«Vor Jahren interessierten sich die Jugendlichen kaum für das Heiva», sagt Stanley Watanabe. «Für sie waren internationale Wettkämpfe interessanter. Aber das ändert sich gerade stark. Heute ist das Fest wieder sehr beliebt.» Der 30-jährige Sportlehrer trainiert auf Bora Bora Jugendliche für das Heiva und möchte irgendwann mit einer seiner Gruppen Inselmeister werden. «Wichtiger als der Sieg ist aber, dass die Jugendlichen sich für die Tradition ihrer Vorfahren begeistern.» Palmklettern, Wettlauf mit kiloschweren Bananenbüscheln und Korbflechten im Akkord gehören zu den traditionellen Disziplinen beim Heiva.
Am Ende hat das Duo von Bora Bora die meisten Nüsse geknackt. Einer der beiden Wettkämpfer hat sich dabei in den Daumen gehackt und dennoch nicht aufgegeben. Die Insel jubelt. Der blutige Verband hindert den Sieger nicht daran, den schweren Pokal übermütig in die Luft zu stemmen. «Wir sind die Besten des Pazifiks!», jubelt der Kokoskönig. Bora Bora hat einen neuen Helden.
von Winfried Schumacher