Täglich ziehen 160 Menschen aus allen Ecken Amerikas in die texanische Hauptstadt Austin – und jährlich Tausende von vermeintlichen Vampiren. Das hat gute Gründe.
Neben den Glitzermetropolen Houston und Dallas ist die texanische Hauptstadt Austin ein Landei. Lange Jahre war sie ein Liebling der wilden Hippies vom Schlag einer Janis Joplin oder von Country-Musikern wie dem legendären Willie Nelson. Ihre Welt waren die schmuddeligen, verrauchten Kneipen und dunklen Hinterhöfe, wo neben Gras und Drogen auch die neusten Folk-Songs und Blues-Balladen zirkulierten. Hier entstand die Outlaw-Bewegung, in der sich Musiker sammelten, die ihrer künstlerischen Freiheit willen der kommerziellen Country-Musik-Kapitale Nashville im US-Bundesstaat Tennessee den Rücken gekehrt hatten.
Platz für Queres
Dieses Unkonventionelle, Rebellische und etwas Zügellose hat sich die Stadt bis heute bewahrt. Zwar glänzt Austin unterdessen auch mit einer etablierten Musikszene, die sich jeden Herbst im Stadtpark Zilker an riesigen Festivals die Ehre gibt und Grössen wie Paul McCartney und Guns’n’Roses anzieht, doch erfreuen sich auch die unzähligen kleinen Bars und Patios in den alten Downtown-Vierteln bei Musikern wie Zuhörern einer anhaltenden Beliebtheit. Zu hören gibt es dort ebenso wie zu essen viele Variationen von Texmex: eine Fusion aus bodenständigem, braungebratenem Country-Beef und ebensolcher Musik sowie scharfen mexikanischen Maisspeisen, begleitet von heissen Salsa-Rhythmen. Die brodelnde Stimmung, die eine Latino-Band aus dem ärmlichen East Austin in einen bretterverschlagenen, abendlich kühlen Hinterhof zaubert, reisst auch Nichttänzer von den Bänken. Zu Folk und Blues im Lokal nebenan wippen derweil unter den Tischen die Spitzen der Cowboystiefel.
Obwohl auch in Austin seit zwanzig Jahren verspiegelte Hochhäuser in den Himmel wuchern und das altehrwürdige, auf einem Hügel thronende Rosa-Granit-Capitol zu ersticken drohen, gibt es in der Stadt noch Freiraum für Alternatives: Industriebrachen mutieren in Freiluft-Graffiti-Galerien von anerkanntem künstlerischem Wert und ungenutzte Vorgärten in Wagenburgen aus Foodtrucks. Von solchen mobilen Essständen, an denen es von Eis bis Fleisch alles gibt, stehen in Austin unterdessen über 4000 Stück herum. Einige der Grills, die erst kurz vor Mittag öffnen, sind so populär, dass die Leute an den Wochenenden bereits um sieben Uhr morgens anzustehen beginnen. Der Renner ist ein ehemaliges Arme-Leute-Essen: zehn bis zwölf Stunden über mildem Eichenholz gegarte Rinderbrust. Die «Brisket» genannte Delikatesse hat eine dunkle, würzige Kruste und ein rosa Herz. Dazu gibt es Krautsalat, Kartoffeln und Maisgrütze mit Käse. Das dünne Bier aus der Kühlbox ist bei den guten «Häusern» gratis – auch für die Wartenden mit ihren Campingstühlen.
Austin war lange Zeit unaufgeregt. Es war die Stadt der Rancher, der Beamten und der Studenten. Doch die riesigen Festivals und die zwei renommierten Universitäten haben ihren liberalen Ruf in den vergangenen Jahrzehnten weit über die Grenzen des konservativen Gliedstaates hinausgetragen. Finden die einen hier den künstlerischen Freiraum, den sie suchten, ist es für andere das schier unbegrenzte Angebot an Hochschulabsolventen, das den Standort attraktiv erscheinen lässt. Dass Austin keinen Winter kennt und Texas keine Einkommenssteuern, tut sein Übriges. An den Hochhäusern prangen deshalb nicht nur die Namen von Hotelketten, sondern aller bekannten IT-Buden.
Beliebt bei Mensch und Tier
Nach den Hippies sind es heute also die Techies und die Leute aus dem Filmgeschäft, die in Scharen aus Kalifornien herziehen. Erstere sind gestresst vom teuren Leben und von der Wohnungsnot im Silicon Valley und in der Bay Area um San Francisco, Letztere von der frenetischen Jagd nach Geld und ewiger Jugend. Er suche einen Ort, wo er sich wieder erden und seine Fähigkeiten sinnbringend einsetzen könne, erzählt der Beau aus LA mit dem etwas zu tief geöffneten weissen Hemd. Dazu ein Haus mit Pool, im Sommer werde es ja sehr heiss. Mit einem Glas Wein in der Hand beugt er sich über das Geländer einer hippen Bar. Sein Blick ruht auf dem träge dahinfliessenden Colorado River und der Congress Bridge, die das Herz der Stadt mit South Austin verbindet, einem quirligen Ausgeh- und Einkaufsviertel, das aber auch Pärke und ruhige Wohnstrassen zu bieten hat. Im Licht der untergehenden Sonne beginnen sich die Brücke und die Uferpromenaden mit Menschen zu füllen. Doch das abendliche Spektakel lässt auf sich warten: In den Bögen der Brücke haust die grösste urbane Fledermauskolonie der USA. Nachdem die Brücke 1980 saniert worden war, entpuppten sich die unterseitigen, unverputzten Spalten im Beton als ideales Fledermaushabitat und Wochenstube. Seither migrieren jeden Frühling etwa 750 000 trächtige Weibchen aus Mexiko hierher. Im Sommer wirft jede ein Junges, das sie ein bis zwei Monate säugt. Bei der nächtlichen Jagd der Mütter bleiben die Fingerlinge «zu Hause» und wärmen sich gegenseitig, bis sie selber flügge werden. Im Herbst kehren dann 1,5 Millionen Flattertiere nach Mexiko zurück. Die Austinites lieben die Fledermäuse und erklären jedem Besucher, der vor den vermeintlichen Vampiren Angst hat, dass sie nur Insekten fressen und die Stadt mücken- und käferfrei halten.
Zwischen Tradition und Fassade
Texaner lieben Superlative und scheinen die Enttäuschung nicht zu fürchten: Bei Austin kann es ja noch hinkommen, wenn sich die Stadt vollmundig als «Live Music Capital of the World» betitelt. Dass Bandera aber die «Cowboy Capital of the World» sein soll, wirkt auf den ersten Blick überrissen: Dort, wo sich in einem Meer von Wildblumen die zwei Nebenstrassen 16 und 173 kreuzen, steht ein Dorf mit ein paar hundert Einwohnern. Hühner und Rehe tummeln sich zwischen den Häusern und ein Schwarm schwarzer Geier bevölkert das Gerippe eines toten Baumes. Die einzigen Steingebäude sind die Kirche, die alte Post und ein kleines Verwaltungsgebäude. Der Rest ist aus Holz und wirkt mit den hohen, potemkinschen Fassaden und den überdachten Portikos entlang der Strasse wie aus einem Wildwestfilm gefallen. Nur parken an den Querbalken Pick-ups und Motorräder statt Pferde. Doch drinnen im «Old Spanish Trail Diner» wirkt alles authentisch: Rancher und Handwerker sitzen an langen Holztischen über grosse Teller mit währschafter Kost gebeugt, der Sheriff und seine Gehilfin, mit Pistolen im Halfter, geben ihre Bestellung auf, und ein paar Fremde beäugen die Schwarzweissbilder von John Wayne an den Holzwänden. Kommt man mit Einheimischen ins Gespräch, ist bald von der Kirchgemeinde, der Grossfamilie mit sieben eigenen und vier adoptierten Kindern, der Klapperschlangenjagd im Frühling, den hohen Heupreisen und dieser neuen Bar die Rede, wo BHs von der Decke hängen – eine Schande.
Und dann erzählt der Schnauzbärtige mit dem Stetson von den alten Zeiten Mitte des 19. Jahrhunderts, als in Bandera tausendköpfige Herden wilder Longhorn-Rinder zusammengetrieben wurden, bevor sie, begleitet von Hundertschaften von Cowboys, ihre lange Reise in die Schlachthöfe der Grossstädte im Norden antraten. Auf den monatelangen Trecks entstanden Songs und Gedichte im Rhythmus des Hufgetrappels und Geschichten über Frauen, Whisky und Pferde. Zur allgemeinen Bewunderung und Belustigung gibt er eines der vielstrophigen Gedichte und eine witzige Zungenbrecher-Geschichte über eine Eidechse zum Besten. Er habe regelmässig an Prozessionen in Gedenken an die grossen Viehtriebe teilgenommen, allerdings ohne Rinder, nur mit Pferden. Da jedoch heute alles Land mit Stacheldraht eingezäunt ist, seien sie gezwungen gewesen, viele hundert Meilen entlang der Highways zu reiten. Doch die Abende an den Lagerfeuern seien wie früher gewesen. Und die Tradition lebt weiter: Jeden Abend spielt in einer der Handvoll Beizen jemand melancholischen Country-Sound. Schwer zu sagen also, wo die Wildwest-Fassade aufhört und die Tradition beginnt.
Text: Lucie Paska
Gut zu Wissen
Anreise: Lufthansa fliegt nonstop von Frankfurt nach Austin.
Hotels: The Driskill: Symphatisches Hotel in einem historischen Haus aus der Gründerzeit von Austin.
Fairmont Hotel: Das Hochhaus aus Glas bietet eine tolle Sicht über Austin und das Umland. Sehr reichhaltiges Frühstücksbuffet.