Victoria ist der kleinste, bevölkerungsreichste und gleichzeitig grünste Bundesstaat Australiens. Besucher werden von Kängurus, Koalas und farbenprächtigen Papageien begrüsst.
Knallrot, königsblau, ein helles Olivgrün: In diesen prächtigen Farben posieren die Papageien morgens um 5.30 Uhr filmreif auf der Veranda des Jetty Road Retreats, einer kleinen Ferienhausanlage, die an den südostaustralischen Gippsland Lakes liegt. «Warum seid ihr schon so früh wach?», ruft eine Kinderstimme aus dem Schlafzimmer. «Die Papageien sind da, komm schnell!», die elterliche Antwort von draussen. So hat der gefürchtete Jetlag, der Europäer noch Tage nach der Landung in Australien bereits im Morgengrauen aus den Federn treibt, für das Beobachten von Tieren seine Vorteile. Dabei zeigt sich die australische Vogelwelt auch gleich in ihrer ganzen Farbpalette: Die bunten Rosellas, wie die Australier sie nennen, bestechen mit ihren besonders markanten, knallroten Körpern und leuchtend blauen, langen Schwanzfedern. Jungvögel der Art Rosella Crimson haben zudem einen hohen Anteil grüner Federn, der mit dem Erwachsenwerden aber verschwindet. Auch die gemeine Felsentaube lässt sich nicht lange bitten. Sie punktet mit ihren rostrot glänzenden Flanken. Und sogar der Kakadu zeigt sich. Er ist der grösste der morgendlichen Besucher, aber auch der scheuste. Im Bestimmungsbuch, das im Ferienhaus aufliegen, ist zu lesen, dass er in unterschiedlichen Lebensräumen anzutreffen ist. Nicht nur in den tropischen Regenwäldern, sondern eben auch in gemässigten Klimazonen wie dem australischen Victoria.
Der am südöstlichen Zipfel Australiens gelegene Bundesstaat vereint ungefähr alles, was man auf den ersten Blick nicht mit Australien assoziiert: Er ist ausgesprochen grün, waldreich mit einer mitunter sanft-hügeligen Landschaft, die an Grossbritannien oder den Schwarzwald erinnert, und jeder Menge Regenwald. Victoria ist zudem neben New South Wales der australische Bundesstaat mit den höchsten Bergen. Die Viktorianischen Alpen sind bis zu 2000 Meter hoch und lassen sich gut per Spazierfahrt über die Great Alpine Road erkunden. Für Europäer kurios: Statt Fichten und Lärchen überziehen endlose, kahle Eukalyptuswälder die Höhen, die Baumstämme sind aufgrund von Buschfeuern silberweiss. Das Klima ist gemässigt, das Outback liegt weit, weit weg, genauso wie der Ayers Rock und das Great Barrier Reef.
Tierbegegnungen gehören zur Tagesordnung
Melbourne, die grösste Stadt Victorias, ist ein guter Startpunkt, um den kleinen Bundesstaat per Auto zu erkunden, wobei klein relativ ist: Victoria ist fünfeinhalb Mal so gross wie die Schweiz. Zwei, drei Tage in Melbourne lohnen sich in jedem Fall, etwa um das Einwanderungsmuseum zu besuchen oder um auf den Spuren der Aborigines bei einem «Heritage Walk» durch den Royal Botanic Garden mehr über die typische Flora Australiens zu erfahren. Beeindruckend ist beispielsweise die Information, dass in Victoria 900 verschiedene Eukalyptusarten existieren, wobei aber nur etwa 50 davon von Koalas verspeist werden.
Was Koalas schmeckt, eignet sich für Menschen aber nicht unbedingt. «10 Milliliter reines Eukalyptusöl genügen, um einen Erwachsenen zu töten», weiss Jakobe, der durch den Botanischen Garten führt. Der 26-Jährige gehört einem Aborigine-Stamm aus Victorias Western District an. Plötzlich bleibt er stehen und zeigt auf einen Baum mit grossen, herzförmigen Blättern, der eher etwas versteckt abseits des Pfades liegt. Auf den ersten Blick wirkt dieser wie ein Traumkletterbaum für Kinder, doch das sollten Eltern tunlichst verhindern. Es handelt sich nämlich um eine Art der Brennnesselgewächse namens «Dendrocnide excelsa», auch Giant Stinging Tree oder Gimpi Gimpi genannt. Deren Blätter haben eine flaumige Behaarung, die extrem schmerzhafte Ausschläge verursacht und sogar durch die Kleidung geht. Noch fataler ist die Wirkung des Gifts der kleineren Art mit der botanischen Bezeichnung «Dendrocnide moroides». Es existieren Erzählungen, dass Pferde von Klippen sprangen, um dem Schmerz zu entkommen, den eine unvorsichtige Berührung verursacht.
Weniger heikel ist dagegen das Beobachten von Australiens typischen Tierarten. So begrüsst bei der Kangaroo Lodge in den Viktorianischen Alpen, etwas ausserhalb des Örtchens Bright, ein Kängurupärchen die Ankommenden auf dem Rasen vor dem mondänen Ferienhaus. Auch um die Yering Cottages im Yarra Valley flitzen die australischen Wappentiere hin und her und lassen überall ihre Häufchen liegen. Wer etwas Geduld mitbringt und sich ruhig verhält, kann sich den scheuen Tieren bis auf wenige Meter nähern.
Tierbeobachtung läuft für europäische Besucher bei ihrer Reise durch den Südosten Australiens fast nebenher und lässt sich durch die Wahl der richtigen Unterkunft gut beeinflussen.
Das Kajak ist ein ideales Fortbewegungsmittel, um die Seenlandschaft der Gippsland Lakes samt ihrer Fauna in gemächlichem Tempo zu erkunden. Mit etwas Glück sichtet man einen der rund fünfzig hier beheimateten Burrunan-Delfine, eine Spezies, die erst vor wenigen Jahren entdeckt wurde. Die Seen sind mit dem Meer verbunden. Besucher passieren immer wieder Pelikankolonien und begegnen schwarzen Schwänen. Eine Kängurufamilie lässt sich mit Nachwuchs auf einer der Inseln kurz blicken, hüpft dann aber schnell wieder davon.
Da nehmen es die Koalas auf Raymond Island, die Besucher von Paynesville aus in wenigen Minuten mit der Fähre erreichen, um einiges gemütlicher. Sie hängen in erster Linie in den meist schon ziemlich kahl gefressenen Eukalyptusbäumen und bewegen sich nur sehr langsam. Damit sind sie nicht nur ideale Fotomodelle, sondern erinnern uns sanft daran, dass es langsam an der Zeit wäre, im Hotel die Füsse hochzulagern und die Erlebnisse des Tages nochmals gemütlich Revue passieren zu lassen.
Text Geraldine Friedrich
Bild Visit Victoria/Mark Watson
Gut zu Wissen
Sehenswert: Wildwest-Romantik verströmt die Goldgräberstadt Walhalla. Dort lebten einst 2500 Menschen, heute sind es gerade noch 10. Wer durch den Ort schlendert, sollte auch dem Friedhof einen Besuch abstatten. Die Führung durch die Goldmine eignet sich allerdings nur für Besucher, die australisches Englisch gut verstehen.
Restaurants: Victoria verfügt über grandiose Restaurants und eine hochwertige, multikulturelle Küche, in fast jedem Örtchen gibt es ein gutes bis sehr gutes Restaurant. Typisch zum Frühstück sind «Mashed Avocado» auf Toast, zum Beispiel im Three Little Birds Café in Traralgon oder im Ginger Baker direkt an der Great Alpine Road in Bright. Ein sehr gutes Restaurant für den Abend in Melbourne ist das Charcoal Lane. Dort werden ausschliesslich einheimische Pflanzen und Tiere zu herausragenden Gerichten verarbeitet. Empfehlenswert ist auch das Restaurant Chocolate
Buddha mit einer preisgünstigen, sehr guten asiatischen Küche. Einen herrlichen Blick auf Raymond Island hat man vom Restaurant Sardine Eatery am Hafen von Paynesville. Es bietet exzellente Fisch und Fleischgerichte