Wandern mit bester Aussicht. Bild: Ferienregion Engadin Scuol Zernez/Andrea Badrutt
Das Engadin bietet mit seiner gewaltigen Natur, seinen Geschichten und seiner traditionsreichen Hotellerie eine perfekte Kulisse für komfortable Wanderferien mit einer Wanderleiterin.
Es ist eine bezaubernde Stille. Soeben hat der kleine Postauto-Bus unsere Wandergruppe in Vnà abgesetzt. Ein 60-Seelen-Dorf auf 1630 Metern über Meer, ein Weiler vor gewaltiger Kulisse. Die schönen Engadinerhäuser liegen eng auf einer Sonnenterrasse, in Szene gesetzt vom goldenen Morgenlicht, mit Blick auf die majestätischen Berge der Sesvenna-Gruppe. Kein Mensch ist zu sehen. Wir stehen da, geniessen die Sonne, den Ausblick, die Freude, loszulaufen und in diese Landschaft einzutauchen. «Die Menschen hier leben schon seit Jahrhunderten von der Landwirtschaft», erzählt unsere Wander- und Reiseleiterin Béatrice Paul von Imbach Reisen. Die Region ist bekannt für ihre Ackerbauterrassen. Viele Trockenmauern und Büsche sorgen für eine aussergewöhnliche Biodiversität. «Die Dornbüsche sind für Reptilien und Vögel enorm wichtig», sagt Paul, die nicht nur Wanderleiterin mit eidgenössischem Fachausweis, sondern auch GeoGuide, (E-) Mountainbike-Guide und ausgebildete Rangerin ist. Sie erwähnt den Neuntöter – ein hübscher kleiner Kerl, der seine Beute an den Dornen der Büsche aufspiesst. Sein wenig sympathischer Name rührt daher, dass man einst glaubte, der Vogel würde erst neun Insekten töten, bevor er sie frisst. Ein Irrtum, wie man heute weiss. Eine von vielen Geschichten, wie sie im engen Miteinander von Mensch und Natur entstanden sind. Es ist nicht der letzte Mythos, dem wir auf dieser Reise im Engadin begegnen.
Während wir uns gerade noch über die Blumenpracht am Wegrand wunderten – grosse Disteln mit haarigen Fäden – wird es im Val Sinestra immer enger und schattiger. Der Fluss Brancla begleitet uns, die Luft riecht feucht und frisch. Wir fühlen uns mitten in der Natur, bis uns ein elfstöckiger, klobiger Bau erschreckt. Das markante Kurhaus Sinestra, Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, verdankt seine Lage einer Mineralquelle. Das arsenhaltige Wasser wurde früher für Heilbäder und Trinkkuren genutzt. Gäste aus ganz Europa reisten an, um vom «Aqua Forta», dem starken Wasser, zu profitieren. Einer dieser Gäste ist bis heute geblieben – so heisst es zumindest. Im Kurhaus spukt es, sind sich die Besitzer des heutigen Hotels sicher. Bei einem kurzen Abstecher ins Haus ist von einem Geist nichts zu spüren. Dafür sitzt eine fröhliche Gruppe Holländer im grossen Saal und trinkt Tee.
Kunst statt Hüttencharme
Im Unterengadin gibt es rund dreissig Mineralquellen. Unsere Wanderleiterin führt uns zu mehreren Brunnen, wo wir unsere Becher füllen können. «Meine Grossmutter ist regelmässig mit Freundinnen für Trinkkuren nach Scuol gereist», erzählt eine Frau aus unserer Gruppe. Wellnessferien anno dazumal. Heute ist die Wirkung des Wassers beliebter in Form eines Besuches im Mineralbad Bogn Engiadina in Scuol. Vom Hotel Belvédère aus, ein Vier-Sterne-Superior-Haus im Jugendstil, wo wir die ersten Nächte unserer Wanderferien verbringen, hat man direkten Zugang zum Bad.
Es gehört zum Konzept unserer Reise, dass die Gäste genügend Zeit für sich haben, in schönen Hotels wohnen und auch kulinarisch verwöhnt werden. In der zweiten Hälfte der Woche wohnen wir im Hotel Castell in Zuoz. Das Haus ist mit seiner Kunst ein Ziel für sich. Nach Kaffee und Kuchen auf der schönen Terrasse lassen sich die müden Muskeln im Hamam entspannen, bevor es zum Abendessen geht. Ein aussergewöhnliches Menü und die Deko im Saal erinnern so gar nicht an klassische Wanderferien. Kunst statt Hüttencharme, Design statt Zweckmässigkeit. Anstelle eines Absackers versorgen wir uns nach dem Essen mit Wolldecken und suchen den «Skyspace Piz Uter» von Lichtkünstler James Turrell auf. Der zylinderförmige Bau ist oben offen und verschafft mit Lichtinstallation eine einmalige Sicht auf den Nachthimmel. Unsere Gruppe besteht aus zehn Personen, Paare und Alleinreisende. Béatrice Paul begleitet uns als Reiseleiterin jeden Tag und ist unsere Ansprechpartnerin für alle Fragen, die auftauchen. Damit gehört es nicht nur zum Komfort, am Nachmittag in ein schönes Hotel zurückzukehren und Kultur oder Wellness zu geniessen, sondern auch, sich um nichts kümmern zu müssen: von der passenden Postautoverbindung über die richtigen Routen bis zum Lunchpaket – für alles ist gesorgt.
Das Wandern mit Wanderleiterin hat aber noch einen weiteren Vorteil: Als gut ausgebildete Bergler geben Guides viel Wissen weiter und machen unterwegs auf scheinbar Unscheinbares aufmerksam. Als wir in S-charl ankommen, erfahren wir, dass hier 1904 der letzte Bär der Schweiz geschossen wurde. Zudem wurde in der Region während 300 Jahren von Hand Erz abgebaut. Es ist eine abwechslungsreiche Landschaft, die wir an diesem Tag entdecken. Das Tal zeigt sich mal wild, mal sanft, von eindrücklicher Schönheit und Weite. Auf dem Programm steht die Überquerung des Pass da Costainas ins Val Müstair. Unterwegs wird manchmal munter geplaudert, dann wieder ist es andächtig ruhig und jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach.
Skurrile Waldgestalten
Ein einzigartiges Bild zeichnet einer der höchstgelegenen Arvenwälder Europas. God da Tamangur heisst der Märchenwald auf rund 2300 Metern über Meer. Die Bäume wachsen hier langsam und werden nicht sehr hoch. Eindrücklich sind sie trotzdem, diese sperrigen Gestalten. Einzelne Exemplare trotzen schon seit mehr als 700 Jahren Wind und Wetter, stehen stark und breit, wachsen knorrig und verdreht. Es ist, als könnte man sie flüstern hören, als stünden sie nur so lange stoisch ruhig, bis man wieder wegsieht.
Voller Leben anderer Art ist der Schweizerische Nationalpark. Die Wanderung in den Park ist eines der Highlights unserer Reise. Die Regeln im Park sind streng, die Wege dürfen nicht verlassen werden, picknicken ist nur an dafür ausgewiesenen Stellen erlaubt. Dafür scheinen die Tiere zu wissen, dass ihnen hier niemand zu nahe kommt. Ein so wenig scheues Murmeltier haben wir auf jeden Fall alle noch nie gesehen: Nicht weit weg liegt es im Gras und blickt wie ein König über das Flussbett.
Mit dem Fernglas können wir Hirsche beobachten, ein Parkführer gewährt uns einen Blick durch sein Fernrohr und zeigt uns zwei Steinadler. Obwohl das Engadin unzählige schöne Wanderrouten bietet, obwohl man in der Höhe schnell weg von der Zivilisation ist, spürt man im Nationalpark besonders, dass Menschen hier nur Gäste sind. Wir lernen, dass ein Luchs sich regelmässig im Park zeigt und eine Wölfin durch die Wälder streift, die partout kein Rudel bilden will. Auch Bären sind schon aufgetaucht. Wir hoffen aber, ein anderes Tier zu sehen: den Bartgeier. Auch er wurde in den Alpen ausgerottet, weil sich Mythen um ihn rankten wie beispielsweise, dass er kleine Kinder raube. Dass der grösste Greifvogel der Alpen Stoff für Räubergeschichten hergibt, ist nicht ganz unverständlich. Mit einer Flügelspannweite von fast drei Metern ist er eine imposante Erscheinung; der starre Blick und der kräftige Schnabel tun ihr Übriges. Doch Bartgeier ernähren sich ausschliesslich von Knochen von Aas. Ist ein Stück zu gross, lassen sie es aus der Höhe auf Steinfelder fallen, damit es zerschmettert.
An diesem Tag fällt nichts dergleichen vom Himmel und wir halten vergeblich Ausschau nach der Silhouette des Riesenvogels. Aber das ist nur noch ein Grund mehr, um wiederzukommen.
Text: Stefanie Schnelli
Gut zu wissen
Imbach, der Spezialist für Wanderreisen weltweit, hat vergangenes Jahr in Zusammenarbeit mit Private Selection Hotels & Tours «Imbach Selection» ins Leben gerufen und erweitert damit sein Portfolio von aussergewöhnlichen Wanderferien. Neben täglichen schönen Wanderungen mit Reiseleitern wird das Programm durch den Aufenthalt in gehobeneren Hotels mit Wellnessbereichen sowie kulinarischen Erlebnissen ergänzt. Die Selection-Reisen finden nur in der Schweiz statt. Die Reise «Bündner Highlights» wird dieses Jahr im Juni und September durchgeführt. Die Wanderzeit beträgt höchstens fünf Stunden pro Tag.
Infos und Buchungen: imbach.ch/selection