Anfang der 1980er-Jahre kauften Deutschschweizer Winzer im Tessin Rebland und sorgen seither für einen gewaltigen Qualitätsschub – gerade beim Merlot. Der Balin des Winzerduos von der Crone/Visini hat in einer Blinddegustation sogar Château Pétrus geschlagen. Auf Spurensuche in der Südschweiz.
Daniel Huber, der am Zürichberg aufwuchs, zog vor gut dreissig Jahren mit seiner Familie ins Tessin und begann im Tresatal, verlassene Rebberge urbar zu machen. «Nach meinem ETH-Studium und der Ingenieurschule in Changins suchte ich in der ganzen Schweiz systematisch nach bezahlbarem Boden zum Winzern. Das war mein Jugendtraum. Erst im Tessin fand ich günstiges Land», erzählt er. So kam es, dass der heute 62-Jährige im Jahr 1981 Huber Vini in Monteggio westlich von Lugano gründete. Die Kellerei ist in einem renovierten Malcantoneserhaus aus dem 17. Jahrhundert untergebracht. «Damals arbeitete man in der Südschweiz vor allem als Selbstversorger im Rebberg, vieles war vergandet. Mich hat es gereizt, das Land zu roden und Rebstöcke neu zu bepflanzen.»
Schon mit seinen ersten Merlot-Jahrgängen stellten sich Degustationserfolge ein. Und es waren weitere Deutschschweizer wie der gebürtige Oberaargauer Adriano Kaufmann, Werner Stucky oder Christian Zündel, die gerade beim Tessiner Merlot für einen enormen Qualitätsschub sorgten. Dies anerkennt der Tessiner Feliciano Gialdi (67) aus Mendrisio, dessen Merlot «Sassi Grossi» selbst zu den grossen Weinen gehört: «Die Deutschschweizer haben bei der Entwicklung eine sehr wichtige Rolle gespielt. In den 1960er-Jahren hat man noch nicht von Barrique geredet und nur gefällige Weine getrunken.» Sie selbst hätten nach und nach viel im Keller investiert, seien oft gereist und hätten ihre Arbeit hinterfragt. Seither seien die Winzer im Rebberg bei der Ernte viel wählerischer. Er habe sich von Anfang an gesagt, statt auf die Deutschschweizer neidisch zu sein, solle man deren Stil und Idee übernehmen: Der Wein «grosse Steine» von Gialdi Vini respektive des Kellermeisters Alfred De Martin ist denn auch ein dichter, satter Merlot mit einer mineralischen Note. «Er muss sortentypisch sein und darf nicht aufdringlich nach Holz riechen. Ich will keine Schreinerweine. Die Natur, die Traube muss präsent sein», beschreibt Gialdi sein Flaggschiff. Erstaunlich: Er kann nicht auf einen eigenen Rebbesitz zurückgreifen und bezieht seine Trauben für den Sassi Grossi fast ausschliesslich von «Hobbywinzern aus dem Nordtessin», wie sich der Direktor ausdrückt – teilweise mit über 40-jährigen Rebstöcken. 2001 ist übrigens der erste Jahrgang, der in die Mémoire des Vins Suisses aufgenommen wurde.
Feliciano Gialdi, dessen 40-jährige Tochter Raffaella sich im elterlichen Betrieb um Verkauf und Marketing kümmert, bezeichnet sich als grosser Fan der Merlot-Traube. «Sie sorgt bei uns im Tessin für die besten Resultate und hat im Rebberg noch immer Steigerungspotenzial», begründet er, der privat auch mal einen Bordeaux, einen Burgunder oder einen Pinot Noir aus der Bündner Herrschaft geniesst. Ein Blick auf die Jahresproduktion der Linien Gialdi und der seit 2001 dazugehörenden Brivio zeigt, dass das Eintreten für den Merlot nicht nur ein Lippenbekenntnis ist: 800 000 Flaschen Merlot stehen nur 15 000 assemblierter Weine gegenüber.
Bei Daniel Huber, dessen Sohn Jonas (30) nach einer Weiterbildung im Unterwallis Ende Januar 2014 wieder ins Tessin zurückkehren wird, sieht es ähnlich aus: In Hubers südexponierten, steilen Rebbergen, die sich auf einer Höhe von 300 bis 400 Metern befinden und eine Fläche von 7,5 Hektaren einnehmen, sorgt der Merlot für einen Anteil von 75 Prozent. Der Rest geht auf 15 Prozent Cabernet Sauvignon und in geringen Mengen auf Cabernet Franc, Pinot Noir sowie die weissen Chardonnay und Completer – bei insgesamt 30 000 Flaschen pro Jahr.
Der neueste Jahrgang werde sicher kein schlechter, aber für die Winzer sei es ein schwieriges Jahr, da sich der Sommer erst spät zeigte. Mit 1800 Millimetern Regen pro Jahr ist die «Sonnenstube» der Schweiz ohnehin eine permanente Herausforderung für die Weinmacher. «Der Regen respektive die Verfügbarkeit von Wasser hilft, dass unsere Trauben weniger unter Wachstumsblockaden leiden. 2013 wird ein Jahrgang mit schönen Tanninen, einer relativ hohen Säure und einem guten Lagerpotenzial», prophezeit Huber, der einstige Stadtzürcher und Bordeaux-Fan. «Hat ein Merlot zu wenig Säure, wirkt er fast plump.» Sein «Montagna Magica» 2011, ebenfalls Teil der Mémoire des Vins Suisses, kommt im November auf den Markt und dürfte schon an Weihnachten ausverkauft sein.
Genauso erfolgreich sind Anna Barbara von der Crone (52) und ihr Geschäfts- und Lebenspartner Paolo Visini (49), die seit 2002 kooperieren und ihre Betriebe 2006 mit dem Bau eines neuen Kellers und Wohnhauses zusammenlegten. Die Geschichte der Cantina Kopp von der Crone Visini aus Barbengo ähnelt jener von Daniel Huber. Von der Crone sagt: «Als wir 1994 angefangen haben, war es finanziell noch möglich, im Tessin Land zu finden.» Sie zog aus der Stadt Zürich in die Südschweiz, ihr Partner aus dem Zürcher Oberland. Des Duos Balin 2005 bildete den ersten Jahrgang, der in die «Schatzkammer des Schweizer Weins» aufgenommen wurde. Just dieser 95-prozentige Spitzen-Merlot (der Rest besteht aus Arinarnoa und Cabernet Sauvignon) hat in einer von René Gabriel organisierten Blinddegustation Château Pétrus geschlagen. «Das löste bei uns hohe Wellen aus», freut sich Winzerin von der Crone. Der erste Balin-Jahrgang 1995 zeige jetzt zwar Alterungsnoten, sei aber noch immer sehr schön. Man könne Balin-Weine problemlos zehn Jahre lagern, manche Jahrgänge auch ein paar Jahre länger, sagt sie. Gute Nachricht für die Konsumenten: Den Artundreise-Degustationssieger Balin kann man sowohl direkt im Weingut bestellen als auch bei Weinhändlern wie Mövenpick, Globus oder Martel. Auch Hubers und Gialdis Weine sind bei diversen Händlern erhältlich.
Vielschichtigkeit, Finesse und Eleganz sind Anna Barbara von der Crone und Paolo Visini beim Weinmachen sehr wichtig. Bei einer Anbaufläche von 7 Hektaren bringen sie es auf eine Jahresproduktion von 35 000 bis 40 000 Flaschen – je nach Wetter. «Man darf den Jahrgang ruhig erkennen. Ein Jahr kann deshalb mal kräftiger, ein anderes Mal eleganter ausfallen», sagt sie. Sehr schön würden sich momentan die Jahrgänge 2005 und 2007 präsentieren.
Ob denn der Merlot nicht eine Frauentraubensorte sei? «Ich glaube nicht an Frauen- und Männerweine», antwortet von der Crone bestimmt. In Zukunft möchte sie mit ihren Rebensäften ihren Traumvorstellungen noch näher kommen. Oder anders ausgedrückt: Sie glaubt, die Qualität selbst ihres vielgelobten Balins steigern zu können. Und zwischen den Zeilen hört man ihre Motivation, auch einmal mit einer anderen Traubensorte zu winzern. Mehr will sie nicht verraten.
Daniel Huber meint zur gleichen Frage: «Was wir in Zukunft unternehmen, müssten Sie meinen Sohn fragen. Ich finde es spannend, in der Ebene einfachere Weine zu produzieren.» Seit 2003 sind rund zehn Prozent von Huber Vini biodynamisch bewirtschaftet, fast alle seine Rebensäfte in Barriques ausgebaut – bei tiefen Erträgen. «Das führt automatisch zu teureren Weinen», räumt er ein. Denn die Hanglagen verursachten doppelt so hohe Produktionskosten. Womit einer der profiliertesten Winzer des Tessins auf einen Wermutstropfen anspricht: Wer einen grossen Tessiner kredenzen will, muss meist über 40 Franken in die Hand nehmen. Das ist aber noch immer deutlich weniger als der Preis für einen Château Pétrus.
von Reto E. Wild
Ein Kommentar