Schaffhausen, das nördlichste Weinbaugebiet der Schweiz, vermarktet sich als Blauburgunderland. Heute verbirgt sich hinter dem Namen nur die halbe Wahrheit.
Verglichen mit dem Wallis ist das Schaffhauser Blauburgunderland ein Zwerg: mit rund 500 Hektaren Reben ist der nördlichste Weinbaukanton der Schweiz gut zehnmal kleiner, zählt aber 20 Weinbaugemeinden, 19 Kellereibetriebe und rund 500 hauptberufliche oder Hobbywinzer. 15 Millionen Franken beträgt der jährliche Traubenumsatz.
Die Familie Stamm arbeitete jahrhundertelang in der Landwirtschaft. «Anfang der 1980er-Jahre haben die agrarpolitischen Rahmenbedingungen nach Alternativen zur Tierproduktion verlangt», erinnert sich Thomas Stamm (59). So pflanzten er und seine gleichaltrige Frau Mariann 1982 die ersten Rebstöcke. Heute bewirtschaften sie vor allem in Thayngen sowie in Stein am Rhein 12,5 Hektaren Reben. Während im Kanton der Anteil an Pinot Noir um die 70 Prozent beträgt, sind es bei ihrer Kellerei weniger als 30 Prozent. «Ich gehörte zu den Ersten in der Region, die Merlot pflanzten», sagt Stamm. Seine Philosophie: «Der Wein muss Spass machen.»
Der Winzer lebt vor, was er sagt. So verzichtet er bewusst auf Gewürztraminer, weil er keinen Gefallen an der Sorte findet. Dafür setzt er auf Viognier und bezeichnet die Weissweinsorte als «spannend». Und er berücksichtigt, dass «der Schweizer Weissweintrinker mit säurebetonten Weinen oft nichts anfangen kann».
In den letzten gut dreissig Jahren hat sich die Kellerei enorm verändert, was symptomatisch für den Wandel im ganzen Kanton Schaffhausen ist. «Als ich anfing, gab es in der Region fast nur Pinot Noir und Riesling. Heute haben wir eine viel grössere Vielfalt an Sorten.» Das zeigt sich bei Stamm am besten: Seine Degustationsliste an der jeweils im August stattfindenden «Schafuuser Wiiprob» umfasst über zwei Dutzend verschiedene Weine, darunter neuere Rebsorten wie Regent, Dornfelder, Cabernet Jura sowie internationale Gewächse wie Sauvignon Blanc (der Jahrgang 2013 holte Gold am Grand Prix du Vin Suisse), Merlot oder Malbec.
Thomas Stamm zeigte sich immer wieder als innovativer Pionier. 1984 führte er Chardonnay ein und vor sechs Jahren liess er seine Rot- und Weissweine mit Genusswerten nummerieren: Je höher die Zahl, desto kräftiger der Tropfen. Eine «0» bei einem Weisswein steht für Apérowein, eine «9» für Essensbegleiter. Heute seien die Schaffhauser Weine fruchtbetont und durch den Einsatz von Barrique interessanter. Und dank staatlicher Mengenobergrenzen seien die Qualitätsschwankungen von Jahrgang zu Jahrgang kleiner geworden. Stamm, dessen Weine seit Jahren auch in seiner Önothek an der Vordergasse in Schaffhausen erhältlich sind, räumt ein: «In den Anfängen haben wir Weine produziert, die heute jenseits jeder Marktfähigkeit wären.»
Stefan Gysel (37), Schweizer Winzer des Jahres 2009 vom Weingut Aagne in Hallau, schenkt genauso reinen Wein ein. «Was wir vor zwanzig Jahren gemacht haben, könnten wir heute nicht mehr verkaufen. Der Qualitätssprung war zwingend», bestätigt er. Sein Betrieb – «Aagne» steht übrigens für «Eigenen» – befindet sich im Klettgau, 15 Fahrminuten vom Rheinfall entfernt, und produziert auf 10 Hektaren je nach Jahrgang zwischen 60 000 und 70 000 Flaschen. Stefan Gysels Grossvater betrieb noch gemischte Acker- und Viehwirtschaft, sein Vater Erich konzentrierte sich als erste Generation auf den Weinbau.
Das Weingut hebt sich heute wie bei der Familie Stamm vom Durchschnitt ab – aus qualitativen Gründen und weil die Aagne-Macher zu gegen 40 Prozent auf Weisswein setzen. Dazu gehören Pinot Blanc, Chardonnay und Sauvignon Blanc. Diese Sorten waren im Klettgau vor zwanzig Jahren sehr selten. «Weissweine werden gut nachgefragt und können sich im Markt behaupten», begründet Stefan Gysel. Er möchte Weine mit schöner Qualität produzieren, die sich im mittleren Preissegment ansiedeln. Inzwischen stehen rund ein Dutzend verschiedene Weine im Angebot. Dabei profitiert das Weingut vom gestiegenen Interesse der Gastronomie an regionalen Produkten. Gysels Nachfolge scheint gesichert: Er ist Vater dreier Töchter. Seine Frau ist Nadine Saxer, die Winzerin aus Neftenbach bei Winterthur, wo die Familie lebt.
Viel zur qualitativen Entwicklung der Schaffhauser Weine hat auch das Weingut Baumann beigetragen, das sich in der sanften Talschaft des Klettgaus in Oberhallau befindet. Schwere Böden auf Jurakalk schaffen gute Voraussetzungen für Pinot Noir, Müller-Thurgau, Pinot Gris und Chardonnay. Der Pinot Noir R (R steht für die Lage Röti) wurde von der Mémoire des Vins Suisses aufgenommen. Die Schatzkammer der Schweizer Weine berücksichtigt nur hochwertige und sortentypische Tropfen, die lang lagerbar sind.
Die Geschichte von Beatrice (53) und Ruedi Baumann (55) ähnelt jener ihrer Winzerkollegen. Der Vater von Ruedi gründete 1978 den Betrieb und stellte Anfang der 1980er-Jahre auf Obst- und Weinbau um. Heute steht das Weingut bei 7,8 Hektar Rebfläche und gegen 40 000 Flaschen pro Jahr. Wurden in den Anfängen noch leichtere Beerli-Weine produziert, haben die Baumanns bereits 1983 die erste Auslese auf den Markt gebracht. 1994 ging als weiteres Jahr der Qualitätssteigerung in die Geschichte ein: Baumanns taten sich mit dem Winzerfreund Michael Meyer aus Bad Osterfingen zusammen. «Seine kiesigen Böden bringen Weine mit mehr Schmelz. Unser lehmiger Boden sorgt für Gerbstoffe. Wir sagten uns, wir können uns nur verbessern, wenn wir unsere Trauben zu je 50 Prozent gemeinsam im Barrique ausbauen.» Das war die Geburtsstunde des Zwaa (steht für Zwei). Der Qualitätswein wurde in der Deutschschweiz rasch bekannt und ist heute auch in der gehobenen Gastronomie gefragt.
1996 baute das Weingut Baumann erstmals den Chardonnay im Barrique aus, im Jahr 2000 kam es einem Kundenwunsch entsprechend zum ersten Zwaa. 2001 folgte der erste Pinot Gris, 2007 Beatrice Baumanns «ann mee», einer mehr, den die Frau des Winzers selbst kelterte. Und auch die Oberhallauer kennen keine Nachwuchsprobleme: Vor drei Jahren vinifizierte Sohn Peter (24) seinen ersten Wein aus 40-jährigen Müller-Thurgau-Reben. Er absolvierte eine Winzerausbildung bei Volg und an der Berufsfachschule in Wädenswil ZH und vervollständigte seine Kenntnisse in Oberhallau und Neuseeland. Seine Eltern haben ihm die beste Basis gelegt, um im Markt zu bestehen und den Slogan des Kantons zu leben: «Schaffhausen – ein kleines Paradies».
von Reto E. Wild