Wie weit kann ein Jet noch gleiten, wenn beim Anflug alle Triebwerke versagen? Ein Pilot antwortet.
Wenn beim Landeanflug sämtliche Triebwerke versagen, dann herrscht doch etwas Stress an Bord. Das Flugzeug könnte zwar noch kurz gleiten, aber die Geschwindigkeit ist beim Landeanflug so gering, dass ohne Leistung schon bald der Strömungsabriss an den Flügeln erfolgt. Man müsste die Flugzeugnase nach unten drücken, um die Geschwindigkeit – also die Strömung – zu halten. Aber mit einer geringen Höhe von rund 600 Metern wäre man dann viel zu früh am Boden. Eigentlich ist das ein Szenario, an das man lieber nicht denkt.
Die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas geschieht, ist zwar extrem klein, aber das Gedankenexperiment ist interessant. Ein sogenannter Double Engine Failure wird in der Ausbildung zum Linienpiloten nur begrenzt geübt. Auch in den halbjährlichen Simulator-Checks kommt dieses Szenario kaum vor. Wenn es doch mal passiert, dann von einer grossen Höhe aus und nicht im Landeanflug. Aus einer solchen bleibt genügend Zeit, um die Gleitgeschwindigkeit einzunehmen und mindestens ein Triebwerk wieder zu starten. Eine Landung im Gleitflug wird nicht erprobt, wogegen der Single Engine Failure, also das Versagen von einem Triebwerk, in verschiedensten Situationen im Simulator durchgespielt wird. Ein solches Ereignis sollten die Piloten daher gut meistern können.
Kleine Wahrscheinlichkeit
Dass wirklich beide Triebwerke im ungünstigsten Moment, also im Landeanflug oder in der Startphase, total ausfallen, ist zwar möglich, aber extrem unwahrscheinlich. Schon eher kann passieren, dass beide Triebwerke (etwa durch Vogelschlag) etwas beschädigt sind und stark vibrieren. Es kann auch vorkommen, dass ein Triebwerk einige Momente lang Feuer spuckt (engine surge), sich dann aber wieder erholt und gute Leistung bringt. Oder dass nur ein Triebwerk völlig ausfällt, das andere aber noch voll funktioniert. Kurz: irgendwoher kommt in den meisten Fällen noch Leistung. Passagierflugzeuge sind trotz ihres Gewichts in der Lage zu segeln. Aber sie brauchen Höhe respektive potenzielle Energie, die in Geschwindigkeit umgewandelt werden kann. Mit der richtigen Geschwindigkeit kann ein Airbus A320 pro 1000 Fuss Höhenverlust (330 Meter) um die 2,5 nautischen Meilen (4,6 Kilometer) segeln. Bei einem Double Engine Failure auf 33 000 Fuss kann also noch 153 Kilometer weit gesegelt werden. Dieser Gleitflug würde gute 20 Minuten dauern – 20 Minuten ohne jegliches Triebwerksgeräusch.
Sullenbergers Gleitflug
Einer der seltenen Fälle eines Double Engine Failure wurde auch zu einem der spektakulärsten Zwischenfälle der letzten Jahre: Chesley Sullenbergers Notwasserung auf dem New Yorker Hudson River im Jahr 2009. Sullenberger fielen bei seinem Airbus A320 bei 3000 Fuss beide Triebwerke aus. Dies würde anhand der Faustregel eine mögliche Gleitdistanz von 7,5 Nautischen Meilen, also 14 Kilometern geben. Und so weit ist Sullenberger auch etwa geflogen, bis er im Hudson River landete. Nun hatte Sullenberger im Steigflug bereits eine gute Geschwindigkeit und das Fahrwerk und die Landeklappen eingefahren. Im Landeanflug sieht das anders aus. Auf 3000 Fuss sind wir etwa 18 Kilometer von der Piste entfernt. Das Fahrwerk und die Landeklappen sind voll ausgefahren – dies bedeutet Widerstand. Die Geschwindigkeit ist sehr tief. Und die Triebwerke laufen auf etwa 55 Prozent Leistung, um diese Geschwindigkeit zu halten. Wenn nun ein Double Engine Failure eintritt, ist der Widerstand zu gross. Die möglichen 14 Kilometer Gleitflug sind nicht zu schaffen. Ein kurzer Gleitflug wäre wohl noch möglich, aber nur mit Notlandung einige Kilometer vor der Piste.
Glücklicherweise sind die Triebwerke auch im Landeanflug sehr zuverlässig. Und wie gesagt: Ein Single Engine Failure wäre kein Problem. Und auch bei einem doppelten Vogelschlag bleibt noch etwas Leistung übrig. Dass im Landeanflug beide Triebwerke auf einmal komplett ausfallen, ist höchst unwahrscheinlich. Oder um es plakativ auszudrücken: Viel eher verschlucken Sie sich an Bord an einer Erdnuss und ersticken, als dass beide Motoren ausfallen.
Von Gianmarco Benedetti*
* Der Autor ist Pilot einer grossen Fluglinie. Er schreibt unter einem Pseudonym, um seine Unabhängigkeit zu bewahren.
irgendwie beruhigend…