Die Region Kimberley liegt weit abgeschieden im Nordwesten Australiens. Die kegelförmigen Sandsteingebilde der Bungle Bungle Range waren lange nur den Aborigines bekannt.
Sand, Busch und Fliegen. Die ersten Europäer, die in Australien anlandeten, erreichten das Land im Westen. Sie fanden eine 12’500 Kilometer lange Küste vor, unendlich viel Sand, dörres Buschwerk, Milliarden von Fliegen – und verschwanden wieder. Bis heute trägt der mit 2,5 Millionen Quadratkilometern grösste Bundesstaat Australiens dieses Image: Sand, Busch und Fliegen. Dabei wurden Gold, Edelsteine und andere wertvolle Bodenschätze gefunden, man entdeckte Naturphänomene wie die Bungle Bungle Range, die Pinnacles oder den Wave Rock, aber nichts änderte sich am Ruf: Sand, Busch, Fliegen
«Good Morning, John. Go ahead!» So knapp und einfach klingt die Freigabe für den Slingair-Flug zu den Bungle Bungle. «Guten Morgen, John, flieg los!» Und schon hebt die sechssitzige Propellermaschine vom Flugplatz in Kununurra ab. Unten surren Milliarden Fliegen und grossartige Naturlandschaften breiten sich aus, etwa der Lake Argyle, ein See mit der vierfachen Fläche des Bodensees, in dem sich nicht weniger als 25 000 Süsswasserkrokodile tummeln. «Gut zum Baden», sagt John trocken, «Freshies greifen keine Menschen an.» «Freshies» sind Süsswasserkrokodile, die Passagiere schauen verwundert. Kurz danach geht John tiefer, kreist langsam über die Bungle Bungle. Der Purnululu Nationalpark, so der offizielle Name, ist Weltnaturerbe. Trotzdem verirren sich gerade einmal 30’000 Besucher pro Jahr in diese abgelegene Region in Kimberley. Bis in die 1980er Jahre war das Gebiet mit seinen weltweit einzigartigen Felsformationen und -domen aus Sandstein nur den Aborigines und wenigen Wissenschaftern und Farmern bekannt. «Sehen die Bungles nicht wie aneinandergereihte Bienenkörbe aus?», fragt John. «Und wisst ihr was? Die Bungles haben schon satte 350 Millionen Jahre auf dem Buckel!» Dann setzt er zur Landung auf der rotbraunen Sandpiste an.
Ein Labyrinth aus Schluchten
Da steht man nun – vom Flug ein wenig durchgerüttelt – und staunt. Am besten mit geschlossenem Mund, denn die Buschfliegen würden in Windeseile die nasse Mundhöhle entdecken und sich laben. Purnululu heisst schlicht Sandstein in der Sprache des Stammes der Djaru, die sich das Gebiet mit dem Stamm der Kidja teilen «und die sich gegenseitig nicht sehr mögen», wie Verena aus der Schweiz zu erzählen weiss: «Mit zwanzig Jahren ging ich unbeschwert nach Australien, bin in Down Under hängen geblieben und seit einiger Zeit lebe ich hier im Nordwesten.» Als Nationalpark-Guide erklärt sie, dass sich die Erosion tausend Wege durch das gestreifte Schichtgestein gebahnt und ein Labyrinth aus Schluchten und klammähnlichen Einschnitten geschaffen habe, «durch die ein Mensch manchmal gerade noch so durchpasst.» Das gilt auch für einen ganz besonderen Platz: Die Mini Palms Gorge ist der Ort der gebärenden Aborigine-Frauen. «Schwangere werden in einem Tross von Schwestern und anderen weiblichen Verwandten dorthin gebracht und umsorgt, bis es soweit ist», sagt Verena. Tatsächlich sieht das Ende der Schlucht wie eine Vagina aus: «Für Aborigines sind solche Phänomene stets ein Zeichen der Natur.»
Etwa die Hälfte der Bevölkerung der Kimberleys sind Ureinwohner, noch heute in Stämmen und in einer strengen Hierarchie lebend, die gegliedert ist nach Alter und Wissen. Die Stammesältesten, die Elders, bestimmen mit Autorität das Leben der Gruppe. Es gibt Aborigine-Verbände von weit mehr als hundert Personen, die sich in sesshafte und nomadische Sektionen unterteilen. Berge oder Flüsse gelten als Grenze des Lebensraums.
Outback-Cowboys mit Helikoptern
Zu 90 Prozent bietet Kimberley kaum mehr als rotbraune Erde, Geröll, Spinifex-Gräser und einen nicht zu Ende gehenden Horizont, der überspannt wird von stahlblauem Himmel und malerischen weissen Schäfchenwolken. So zumindest zeigt sich die Landschaft während der Trockenzeit. Dann ist es so heiss, dass die Klimaanlagen und Eiswürfel erzeugenden Gefriertruhen zum besten Freund der 40’000 Kimberley-Menschen werden. Sie leben verteilt auf 425 000 Quadratkilometer, eine Fläche, die fast doppelt so gross wie Grossbritannien ist. In dieser Region müssen die Ärzte zu ihren Patienten fliegen, weil den Kranken die Strapazen des Überlandwegs nicht zuzumuten sind. Selbst den Nachbarschaftsbesuch führen gut situierte Farmer schon mal mit dem Kleinflugzeug durch. OutbackCowboys nutzen Helikopter, um ihr Vieh zusammenzuhalten. Und: Sie denken 730 Stunden pro Jahr an Sex, haben ihn aber mangels weiblicher Gesellschaft nur für zwanzig Stunden. Dies zumindest, behauptet das Magazin «Men’s Health Australia» herausgefunden zu haben.
Doch wehe, wenn die heftigen Regenfälle während der Monsunzeit von November bis April einsetzen: «Dann verwandelt sich hier alles zu einer Seenplatte mit ein paar Inseln, den Rinderfarmen», erzählt John beim Rückflug. «Viele Siedlungen und Farmen verlieren aufgrund von Überschwemmungen jeglichen Kontakt zur Aussenwelt. Der Regen kommt stets geballt, fortwährend und sehr stark, wie ein Wasserfall, der vom Himmel herabstürzt.» John wagt sogar einen geradezu monumentalen Vergleich: «Für uns hier in den Kimberleys ist die Monsunzeit ein Verwandter der biblischen Sintflut – nur mit dem Unterschied, dass der Monsun jedes Jahr zur gleichen Zeit herabprasselt.» Dann heisst es nicht mehr Sand, Busch und Fliegen, sondern nur noch Wasser, Wasser und Wasser.
Text Jochen Müssig
Bild Tourism Western Australia