Ein weisser Fleck auf der touristischen Landkarte überrascht mit einer kunterbunten Mischung aus drei Kontinenten und hundert verschiedenen Grün-Tönen.
Viermal Indonesien und dreimal Afrika: So lautete das Ergebnis einer nicht repräsentativen Umfrage unter Freunden, wo auf dem Globus denn Surinam liege. Alle falsch! Nur die drei Fussballer unter den zehn Befragten wussten es: Surinam, etwa doppelt so gross wie Österreich, ist das kleinste unabhängige Land in Südamerika und liegt im Nordosten des Kontinents, eingeklemmt zwischen Guyana, Brasilien und Französisch-Guyana an der Atlantik-Küste. Und Suriname ist die Heimat von Edgar Davids, Ruud Gullit und Patrick Kluivert, Frank Rijkaard oder Clarence Seedorf, um nur ein paar Fussballspieler zu nennen, die in den Niederlanden zu Weltklassekickern reiften.
«Oh ja!», sagt der Gärtner im schönen Bergendal Resort am Fluss Surinam. «Mein Neffe kam früher einmal pro Jahr aus Paramaribo zu Besuch. Er genoss die Ruhe und die Natur hier am Wasser.» Der Mann ist sichtbar stolz, denn sein Neffe ist einer jener Weltstars: «Ich bin der Onkel von Clarence Seedorf!», sagt der Gärtner, der Karl heisst, mit seinen Rastalocken aber aussieht wie ein Karibe.
Der Hindu Bysai sagt dagegen, seine Familie lebe schon seit Generationen in Surinam. Woher sie aus Indien kämen, wisse er nicht. Fu Lin ist einer der vielen Chinesen, die ein Lebensmittelgeschäft führen, und Wayan, wie in Indonesien traditionell die Erstgeborenen heissen, nimmt in seinem Warung die Bestellung für ein Nasi Goreng auf. In der Hauptstadt Paramaribo, wegen seiner Holzbauten Weltkulturerbe seit 2002, stehen Kirche, Moschee, Hindu-Tempel und Synagoge einträchtig nebeneinander. Die Strassennamen sind holländisch. Das Leben draussen ist karibisch-heiter und Südamerika scheint weit weg zu sein. Spanisch ist jedenfalls nirgends zu hören.
Surinam vereint auf kleinem Raum holländische und kreolische, westafrikanische und indische, aber auch indonesische und deutsche Einflüsse. Ende des 18. Jahrhunderts beispielsweise, prägten Missionare und Ärzte aus Deutschland den Alltag im kleinen Land. Die Autos fahren allerdings links. Nicht weil die Briten einmal für ein paar Jahre die Kolonialmacht waren, sondern weil der erste Besitzer eines Autos in Surinam selbst nicht fahren konnte und deshalb einen Chauffeur anheuerte. Der kam aus England und entschied sich gewohnheitsmässig, links zu fahren.
Kapitan, Richter und Dorfchef
«Instappen!» – einsteigen – sagt Bootsführer Oswaldo. Er ist ein Maroon wie etwa ein Viertel der insgesamt 500 000 Einwohner. Sie sind die Nachkommen geflüchteter Sklaven. Ein weiteres Viertel sind Hindustanen, Leute indischer Herkunft, die nach Abschaffung der Sklaverei 1863 als Arbeitskräfte ins Land geholt wurden. 7000 Niederländer leben auch noch in Surinam, umgekehrt sind jedoch 200 000 Surinamesen im Land der ehemaligen Kolonialherren zu Hause. Als ökonomische Regel gilt: Pro Familie arbeitet einer in Holland und unterstützt den Clan in Surinam. «Instappen!», wiederholt Oswaldo. Die Reise führt auf dem Surinam Fluss Richtung Süden, zum Brokopondo.
Der Stausee, dreimal so gross wie der Bodensee, sieht aus wie nach einem Atomangriff. Apokalyptisch ragen Tausende von überschwemmten und abgestorbenen Bäumen aus dem Wasser. An einigen Stellen muss Oswaldo mit seinem zehn Meter langen und zwei Personen schmalen Boot die Baumstumpen zur Seite stemmen, wie Slalomläufer beim Skifahren die Stangen, um durchzukommen in diesem toten Labyrinth. Lebi Doti, eines der Dörfer am Wasser, ist allerdings alles andere als ausgestorben. Im See waschen farbenfroh gekleidete Frauen die Wäsche und unterhalten sich lautstark. Die Männer gehen zum Fischen. Die Kinder schreien den Fremden zu. Lebi Doti ist eine hundertprozentige Maroon-Siedlung und Westafrika im Kleinformat. Abgesehen davon, dass es keine Hunde im Dorf gibt. «Hunde waren Sklavenjäger», erklärt der Kapitän, der Dorfchef, und freut sich auf die Flasche Rum, die als Gastgeschenk übergeben wird. Der Lehrer der Dorfschule reist wochenweise aus der Hauptstadt an. Diesel für den Generator fliesst nur, wenn Wahlen sind. Und für kleinere Delikte ist der Kapitän auch Richter. Die Polizei käme frühestens nach zwei bis drei Tagen …
Tourismus erwünscht
Weit mehr als 90 Prozent der Bevölkerung lebt entlang der Küstenregion im Norden oder entlang einem der acht Flüsse des Landes. Suriname ist erst seit 1975 eigenständig. Die ehemalige Kolonialmacht Niederlande hilft dem Land, neben Einkommen durch Rohstoffe wie Gold, Öl, Bauxit und Holz, ein weiteres Standbein aufzubauen: den Tourismus. 2014 verzeichnete Surinam aber gerade mal 761 Einreisen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Da gibt’s Luft nach oben und der Brokopondo kann dabei helfen: mit seiner einmaligen Szenerie, einer Einsamkeit wie am Ende der Welt und – ganz banal – der Möglichkeit zum Baden. Denn an keinem der Atlantik-Strände Surinams geht man schwimmen. Vor der 380 Kilometer langen Küste liegen acht etwa 20 Kilometer breite Schlammbänke, die der Amazonas, der rund 600 Kilometer weiter südlich in den Atlantik mündet, verbunden mit Meeresströmungen, anschwemmt. Und braunes Wasser mit Schlick entspricht nun mal nicht gängigen Vorstellungen von einem Badestrand – auch wenn die rosafarbenen Amazonas-Delfine es lieben.
Laute Nacht im Dschungel
Im Süden des Landes gibt es einen der intaktesten Primärregenwälder der Erde. 85 Prozent des Landes sind fast unberührt und beinahe unbewohnt. Regen. Natürlich Regen. Der Name Regenwald kommt ja nicht von ungefähr. Wobei der Regen wie Regenstaub wirkt, feiner noch als Niesel, als seien die Tropfen durch ein unsichtbares Sieb gelaufen. Das dichte Dach des Waldes ist mehr als 50 Meter hoch. Jede Pflanze kämpft um Licht und Wasser. Jeder Regentropfen trifft unzählige Male auf Blätter, Äste, Tiere, wird kleiner, verstäubt, ehe er sich, unten angelangt, fein und weich über Kopf und Körper legt wie ein Film. Und unten, da geht die Post ab!
Ritsch-ratsch! – Guide Norman haut mit seiner Machete eine Schneise ins Dickicht. Es ist heiss, feucht, das Hemd klebt auf der Haut. Und Norman doziert: «Der Regenwald ist wie eine Apotheke. 3000 Pflanzenarten aus der Amazonas-Region werden für pharmazeutische Produkte genutzt.» Ritsch-ratsch! Und wieder ist die Machete im Einsatz. Norman zeigt bunte Vögel, winzige, aber extrem giftige Frösche und scheue Affen, ehe er eine faustgrosse Tarantel auf seinem Hemd spazieren gehen lässt. «Wenn man keine Angst hat, beissen sie nicht. Giftspinnen spüren das!»
Wer Charles Darwins Evolutionstheorie bislang nicht verstanden oder angezweifelt hat, der wird im Regenwald eines Besseren belehrt. Gross frisst Klein, Licht wirft Schatten und Norman zerrt mal kurz eine junge Anakonda aus ihrem Versteck. Das Territorium ganz im Süden von Surinam, nahe der Grenze zu Brasilien, gut zwei Propellerflugzeug-Stunden von der Hauptstadt Paramaribo entfernt, ist weit weg von jeglicher Zivilisation, ohne Strassen und Handy-Empfang, mit nur wenigen Indio-Siedlungen und noch weniger kurzen Pisten für Kleinflugzeuge. Der dichte Regenwald wird nur durchzogen von unzähligen Flüssen mit Kaimanen und Piranhas.
Die Nacht ist unangenehm. Das Netz über der Hängematte nimmt einem zumindest nicht ganz die Angst vor etwa 3000 nachtaktiven Spezies. Und wer meint, die Nacht sei still, täuscht sich gewaltig. Dieser Regenwald ist rund 150 Millionen Jahre alt. Er befindet sich immer noch in einem Stadium der Evolution, die offensichtlich besonders nachts im Gange ist. Es pfeift, blubbert, knackt. Fremde, nie zuvor gehörte Geräusche – permanent, durchdringend, manchmal beängstigend …
von Jochen Müssig